Die gemeine Sandbiene

(11.12.2021)

Löcher und Bienen

Habe ich mich an anderer Stelle gerühmt, wie synchron abgestimmt die Beiträge dieser Seite mit der aktuellen Jahreszeit sind, habe ich nun dieses doch etwas anstrengende Unternehmen der Synchronität an den Nagel gehängt und werde nun hemmungslos der jahreszeitlichen Asynchronität frönen. So präsentiere ich nun hier einen Frühlingsboten der besonderen Art: die gemeine Sandfliege - Andrena flavipes. Und schon wieder treffen wir auf einen Vertreter der "Gemeinen", die uns ja schon so oft im Pilzreich begegnet sind. Wird mit "gemein" die Häufigkeit einer Art genannt, so frage ich mich, wie außerirdische Artenbestimmer auf die Spezies Mensch schaut. Sicherlich gibt es in einer nahen Galaxie das Bestimmungsforum der Hominidae, das sich darauf spezialisiert hat, die Menschenaffen der Erde zu bestimmen. Der Homo sapiens wird dort sicherlich als der gemeine Menschenaffe in den Bestimmungsbüchern geführt. Und gerade in diesem Moment wird bestimmt der Fund eines Schimpansen gepostet, das die Forenmitglieder in helle Aufregung versetzt: "Herzlichen Glückwunsch zu diesem selten Fund" und das Liken nimmt kein Ende. Doch schon erhebt sich eine warnende Stimme, die ausruft: "Ja, ein toller Fund, doch um wirklich sicher zu sein, dass es tatsächlich der Schimpanse ist, braucht man ein Mikroskop. Solch haarige Vertreter habe ich auch schon beim Homo sapiens entdeckt".
Ja, und schon sackt die Freude über den selten Fund in ein deprimiertes Seufzen ab: "Ach, wahrscheinlich wieder nur der gemeine Menschenaffe".
Wenden wir uns nun aber der gemeinen Sandfliege zu, die im Gegensatz zu dem, was ihr despektierlicher deutsche Name nahelegt, direkt mit Superlativen aufwartet. Gäbe es ein Ranking der mit dem ADS-Syndrom geplagten Arten, würde Andrena flavipes sie unangefochten anführen. Um dies zu erklären, muss ich allerdings auf die Umstände und die Jahreszeit (vergessen wir nicht, Andrena flavipes ist ein Frühlingsbote) des Zusammentreffens mit der gemeinen Sandbiene zu sprechen kommen. Ende März machte ich mich auf in ein Venngebiet (Witte Venn), das an der deutsch-niederländischen Grenze liegt. Am Anfang führt ein sandiger Weg durch eine typische Heidelandschaft und plötzlich umschwirrten mich Hunderte von Bienen. Neige ich sonst dazu, recht schnell in Panik zu geraten, merkte ich recht schnell, dass die Bienen nicht besonders aggressiv waren. Ganz im Gegenteil - bald erspähte ich die Löcher im Sandboden (sie sind oben auf den Fotos zu sehen) und ich kombinierte sicher, dass sie zu den Bienen gehören müssten. Tatsächlich schlüpften auch einige schnell hinein oder kamen schnell wieder heraus. Ich hockte mich nun neben die Löcher, was die Bienen nicht weiter zu stören schien. Sie waren ganz hingegeben ihrem Tun, dass darin bestand, chaotisch in rasendem Tempo ohne Rast noch Ruh über den Löchern und angrenzenden Heidepflanzen zu schwirren. Tja, nach 15-minütigem Hocken gab ich es langsam auf, noch eine ruhende Biene zu entdecken, die ich fotografieren könnte. Aber das nicht versiegende Schwirren um mich herum faszinierte mich auch so. Und plötzlich, ja, dann, endlich, eine Biene landete völlig ermattet neben einem Locheingang, und es gelang mir tatsächlich, sie abzubilden.
Warum um alles in der Welt schwirren sie nun in einem paranoid anmutenden Dauerflug in der Gegend herum? Es scheint mit dem Paarungsverhalten der Art zusammenzuhängen. Die Männchen schlüpfen vor den Weibchen und beginnen einen nicht endenden Paarungsflug. Anscheinend hinterlassen sie dabei Duftstoffe, die auf die Weibchen anziehend wirkt. Wer glaubt wird selig... Ich gehe davon aus, dass die Männchen irgendwann so die Kontrolle über ihr Dasein verloren haben, dass sie gegeneinander fliegen und benommen zu Boden fallen und dort dann vom Weibchen gezwungen werden, sie zu befruchten.
Ist dies geschehen, kommen die Löcher ins Spiel. Meine biologische bewanderten Leser und Leserinnen werden es schon erraten haben: Es handelt sich um Brutgänge, die recht weit in den sandigen Boden hineinführen können (nun ja, so um die 20 cm). Von diesem Gang abgehend, werden Brutkammern angelegt, die mit Pollen und Nektar ausgestattet werden, bevor das Ei dazwischen positioniert wird. Sterben die Männchen kurz nach der Paarung, sind dem Weibchen noch einige Wochen gegeben, um die Brutpflege abschließen zu können. (Dann sind jedoch die irren Flugmanöver nicht mehr zu sehen.)
Und so ist die Luft Ende März über dem Sandweg angefüllt mit warmen Sonnenstrahlen und dem Fliegen der gemeinen Sandbiene. Ein schöner Frühlingsmoment. Doch nicht nur Frühling kann sie, nein, sie ist gleichzeitig auch die Künderin des Spätsommers, denn Ende August beginnt das Spektakel von Neuem, denn Andrena flavipes bildet zwei Generationen aus; die Nachkommen der zweiten Generation überwintern im Erdreich (Sandreich), bis sie im Frühjahr des nächsten Jahres schlüpfen.
Doch zum Schluss muss ein Schatten über das Dasein der gemeinen Sandfliege geworfen werden. Sieht man die dicht an dicht angelegten Bruteingänge und spürt die Aberhunderten von Bienen um sich herum, bekommt man das Gefühl, einer gesellschaftsfähigen, staatsbildenden Spezies gegenüberzustehen. Um es modern auszudrücken: purer Fake. Andrena flavipes ist eine Solitärbiene und kümmert sich nicht groß darum, was ihre unmittelbaren Nachbarn den ganzen lieben langen Tag treiben. Ja, sie hat durchaus was von einem in einer Großstadt lebenden Menschen. So werden diese Agglomerationen von "Brutnestern" auch Scheingesellschaften genannt. Die Einzelgänger werden einfach von der für sie geeigneten Bodenbeschaffenheit angelockt. 
Andrena flavipes lässt sich wörtlich als blondbefußte Sandbiene bezeichnen. bei solch einem hübschen Namen kann es einen nur freuen, dass sie ausgesprochen häufig vorkommt, was daran liegt, dass ihr Nahrungsspektrum recht weit gestreut ist.
Ich hoffe, ich habe bei meinen Leserinnen und Lesern Lust auf dieses possierliche Tierchen geweckt: Das blondbefußte, paranoid veranlagte, in einer Scheingesellschaft egozentrisch im Blindflug dahin schwirrende Wesen muss man einfach gern haben.         

Die Bienenragwurz

(22.11.2021)

Die Rätsel der Unattraktivität

Ob der wirklich schön anzuschauenden Blüten der Bienenragwurz - Ophrys apifera - stellt sicherlich auch der Titel des Beitrags als solcher ein Rätsel dar. Ein doppeltes Rätsel gleich am Anfang - schauen wir mal, ob es mir gelingen sollte, noch weitere anzuhäufen und ein einziges rätselhaftes Wortergusskonstrukt hier an dieser Stelle zurückzulassen. Ich kann schon förmlich spüren, wie der Geist DADAs auf mich niederschwebt. Doch betrachten wir die Blüten etwas genauer: Man wird es kaum abstreiten können - Ophrys apifera scheint Stunden um Stunden vor kleinen Spiegeln der Eitelkeit ausgeharrt zu haben, um ein wahrlich sexy Aussehen in die botanische Welt hineinzuzaubern. Der rosa Farbton der Kelchblätter, das kontrastierende Grün der Kronenblätter und die braune Lippe mit seinen ins graubläuliche spielenden Streifen, die zart durch ein pralles Gelb umrandet werden und außerdem noch pelzige Ausstülpungen an den Seiten besitzt - eine perfekt in Szene gesetzte, auf jedes Detail achtende Schönheit tritt uns hier vor Augen, vor der jedes sich als schön erachtende Wesen betreten und schamvoll die eigene Nichtigkeit anerkennen muss. 
Nun gut - das Loblied auf die Schönheit ist angestimmt und wird in den nächsten Zeilen von disharmonischen Tönen zerfetzt. Denn ja - die Bienenragwurz fristet ein Dasein, das von Ungeliebtheit, Verachtung und Erniedrigung gekennzeichnet ist. Ich kann die verstörten Blicke meiner Leser, und Leserinnen die zwischen den Zeilen und den Fotos hin und her schwanken, spüren, denn diese Verstörung prägt auch meinen Blick - noch immer.
Bevor nun aber das Geheimnis der Unattraktivität gelüftet werden kann, ist ein kurzer Exkurs auf die Gattung der Ragwurzen von Nöten - tja, ich merke schon, die hochtrabenden Worte des Geistes DADAs vom Anfang sind schon wieder in leeren Worthülsen verweht.
Ragwurzen sind für mich so etwas wie die seltsamsten Wesen, die unsere Welt bevölkern. In ihnen scheint ein wissender Geist anwesend zu sein, der direkten Einfluss auf ihre Blütenmorphologie hatte. Denn in der Gattung gibt es neben der Bienenragwurz u.a. noch die Hummel-, die Spinnen-, die Fliegen- und die Wespenragwurz. Und das Unglaubliche: Diese Ragwurzen haben ihre Blüten so gestaltet, dass sie ihren namensgebenden Insekten gleichen bzw. recht ähnlich sehen. Der Sinn dahinter liegt in der Fortpflanzungsstrategie dieser Pflanzen begründet. Erspäht z.B. eine liebestrunkene Fliege die Blüte der Fliegenragwurz, stürzt sie sich in jeglicher Unterscheidungswahrnehmung verlustig gegangener Begattungseuphorie auf die Blüte und nimmt den Pollen auf, den sie in einem nächsten Liebesflug (ja, Insekten scheinen nicht die Hellsten zu sein) auf eine nächste Pflanze überträgt. Und betrachtet man in seiner ganzen Tragweite diese Fortpflanzungsstrategie, kann man nicht umhin, einen irgendwie wirkenden Lebensgeist im Kosmos anzunehmen. Es wirkt ja geradezu so, als ob in den Pflanzen ein Wissen um die sie umgebende Umwelt eingeschrieben ist, die sie dann zu ihrem Nutzen modellieren kann. 
Kommen wir nun aber wieder zu unserer Hauptakteurin  Ophrys apifera zurück und dem, was ich als Ungeliebtheit, Verachtung und Erniedrigung beschrieben habe. Ich mache es kurz und schmerzlos: Die Bienen  schenken der Bienenragwurz keine Beachtung; kein liebestolles sich Herabstürzen auf den attraktiven Leib der Blüte findet statt, keine ekstatische Vereinigung von Tier und Pflanze - Ophrys apifera ist dazu verdammt, einsam und allein in die Welt zu blicken. Um sich zu vermehren tut sie das, was jedem Autofellatio-Anhänger der menschlichen Spezies ein anerkennendes Kopfnicken abgewinnen muss: Die gelben luftigen Anhängsel, die auf den Fotos zu sehen sind, sind keine goldenen Ohrgeschmeide, sondern die Pollinien, die wachsen, sich krümmen und endlich auf die Narbe treffen, um sich selbst zu bestäuben. Was in menschlichen Dimensionen direkt vor dem Landgericht verhandelt würde, stellt die Überlebensstrategie der Bienenragwurz dar. Dieses inzestuöse Gebaren ist auch dafür verantwortlich, dass bei der Art Ophrys apifera recht seltsame Variationen entstehen können - wir Menschen kennen dies noch aus etwas abgelegenen Bauernschaften auf dem Lande - Inzest kann dann doch etwas seltsame Nachkommen zeugen.
Interessant ist nun aber die Frage, warum die Bienenragwurz ein so völlig unbeachtetes Dasein führen muss.  Ist ihre Blütenschönheit nur eine äußere billige Maskerade, die die Bienen nicht täuschen kann - die im Gegenteil die dahinter liegende Hässlichkeit in aller Klarheit dem Bienenauge offenbart?
Oder hat Ophrys apifera im Schönheitsrausch einfach einen Schnörkel zu viel auf ihre Blüte gemalt, so dass Bienen sie nicht mehr als Sexualpartner erkennen?
Zwar ärgere ich mich, aber die "wissenschaftliche" Deutung wird der Wahrheit wahrscheinlich am nächsten kommen: Ursprünglich stammt die Bienenragwurz aus dem Mittelmeerraum, von dem aus sie sich aufgrund der Klimaerwärmung  immer weiter nach Norden ausbreitet. Und in dem südlichen herkunftsgebiet scheinen die Bienen ein anderes Aussehen zu haben, sodass die Blüte weiter nördlich einfach nicht als Biene erkannt wird. 
So ist letztendlich auch der Fundort bezeichnend für die Ungeliebtheit dieser Spezies. Sie wuchs direkt am Hange einer Autobahn in Lank Latum. Kommt sie normalerweise auf mageren Standorten mit Kalkanteil im Boden vor, gehe ich davon aus, dass in den kommenden Jahren die meisten Fundstellen an Autobahnen, Schlachthöfen und Müllhalden liegen. Ja - die verachtete, erniedrigte, vereinsamte Schönheit kehrt der Welt ihren Rücken zu.    

Die Lindengallmilbe

(07.12.2020)

The age of aquarius

Der Titel "Lindengallmilbe" führt völlig in die Irre, denn das, was wir auf den Fotos sehen, ist nichts anderes als die Galle der Milbe Eriophyes tiliae. Das Tierchen selbst ist so klein (über zwei Millimeter kommt es nicht), dass man es nur unter dem Mikroskop sehen kann. Oder man nimmt psychoaktive Pilze zu sich, um die Sinne zu schärfen. Ich bin sich, dass man dann zumindest die Lebensäußerungen der Milbe durch die Gallwände hindurch erahnen kann. Der Name "Eriophyes tiliae" ist nicht genau; es verstecken sich in den rötlichen Beahusungen unterschiedliche Arten und Unterarten, die teilweise auch an unterschiedlichen Lindenarten vorkommen und somit recht "wirtsspezifisch" sind. Doch der deutsche Name "Lindengallmilbe" passt auf jeden Fall.
Hatte ich an anderer Stelle dieses Blogs mich damit gebrüstet, dass seine Beiträge im Rhythmus der Jahreszeiten stringent abgestimmt sind, muss ich nun eine Argumentation finden, die das Zeigen der Fotos Anfang Dezember rechtfertigt. Aufgenommen habe ich sie Anfang Mai, was auch die Zeit darstellt (spätes Frühjahr bis Frühsommer), in der man die Gallen der Lindengallmilbe an noch jüngeren Lindenblättern finden kann. Je nach Lesart kann nun die Präsentation der Galle als Erinnerung oder als Vorausahnung des Frühjahr betrachtet werden. In zyklischen Zeitgeschehen sind diese Alternativen sicherlich obsolet, denn im Kreislauf fließen Erinnerung und Vorausahnung ineinander zusammen, wodurch so wunderbare Wortschöpfungen wie das "erinnernde Vorausahnen" oder das "vorausahnende Erinnern entstehen. Also habe ich hiermit Zukunft und Vergangenheit in die Präsenz eines dezemberlichen Spätherbstabends hineingezaubert. Wenn dies kein magischer Moment ist.
Und die Lindengallmilbe erlaubt zudem verblüffende Parallelitäten zur Menschenwelt zu schaffen. Schnallt euch an, die Fahrt beginnt.
Zunächst erstaunt die Größe der Gallmilbe in Bezug auf ihre "Behausung": Keine 2 Millimeter groß, misst der rote Hauszipfel einen guten Zentimeter. Da will wohl jemand mehr scheinen als sein. Und ach, kennen wir das nicht zu Genüge von unseren Artgenossen? Unbedeutende Menschen, die in aufgemotzte SUVs steigen; von der Muse vergessene Zeitgenossen, die sich in schönster Abendgarderobe in die Theater zwängen; Villenviertel, aus die jeder geistiger Anstand ausgezogen ist. Tja, all denen sei die Lindengallmilbe als Maskottchen ans Herz gelegt.
Aber nein, ein Blick in die Literatur zu Eriophyes tiliae zeigt andere Wirklichkeiten. Dazu seien einige Worte zu ihrem Leben gesagt. Die Lindengallmilbe saugt an den Unterseiten von Lindenblättern, und ihr Speichel erzeugt im Pflanzengewebe eine Reaktion, die es wachsen lässt; eben diese Wachstumsform haben wir auf den Fotos vor uns. Nun legt die weibliche Lindengallmilbe in die zipfelartigen Auswüchse Eier ab. Die schlüpfende Generation bleibt in der Galle leben, die in der Innenwand ein Gewebe ausbildet, das Stärke und Proteine beinhaltet, das den Milben als Nahrung dient. Und nun beginnt ein kleiner Kreislauf: Die Milben paaren sich von Neuem, neue Milben schlüpfen usw, bis die letzte Milbengeneration die Dunkelheit der Galle erblickt. Die weiblichen befruchteten Tiere verlassen nun "ihr Haus" über die Blattunterseite und suchen Schutz in Lindenknospen oder der Lindenrinde, bis im nächsten Frühjahr der Baum neue Blätter trägt und das Lebenskreislaufspiel von Neuem beginnt. 
Was erstaunt, ist die Menge an Milben, die eine einzige Galle bewohnen kann: Es sind wohl bis zu 100 Einzelexemplare, die fressen, vögeln und sterben.
Nun könnte die nächste Assoziation zu Eriophyes tiliae einen Anstrich einer Pariser Banlieu erhalten. Dichtgedrängt in prekärer Höhe fristen sie ein von der Gesellschaft vergessenes Leben und müssen sich mit kleinkriminellen Handlungen über Wasser halten. Doch diesen Gedanken geben wir direkt wieder auf: Soziale Probleme kommen - soweit ich nachforschen konnte - trotz engem Wohnraum in ihrer Welt nicht vor.
Ganz im Gegenteil: Was wir vor uns haben ist die symbolische Wiedereinsetzung des "Age of Aquarius", das Wiedererstarken einer kommunenhaften Hippiewelt, die zeigt, das es andere Lebensmodelle als die der bürgerlichen Gemütlichkeit gibt. (Ich spreche hier natürlich nur von der westlichen Welt; in anderen Weltteilen ist die Gemütlichkeit der bürgerlichen Welt sicherlich erstrebenswert.) Ja, in einem Haus leben hundert Gleichgesinnte im Zeichen der Liebe zusammen, und wenn nun noch die Wissenschaft beweisen könnte, dass die Lindenblattsäfte auf den Stoffwechsel der Lindengallmilbe psychoaktiv wirkt, wäre das Bild perfekt. So nehmen wir zum Gedenken dieses kleinen Wesens einen tiefen Zug aus der Bong, lehnen uns zurück und träumen uns mit psychedelischen Klängen untermalt in die Behausungen der roten Zipfelchen hinein,.      

Der Heide-Dornfinger

(26.11.2020) (Datum der Aufnahmen: 28.08.2020)

Die wundersame Welt der Genitalmorphologie

Obwohl ich immer dachte, dass die Farbkombination von Rot, Orange, Gelb und Schwarz nicht unbedingt ein stimmiges Gesamtbild ergeben könnte, belehrt uns der Heide-Dornfinger - Cheiracanthium erraticum - eines Besseren. Nimmt man dann noch das Grün und Lila des Grashalmes, der mit weißen Spinnenfäden durchsetzt ist, hinzu, könnte man in Jubelschreie ob dieses expressionistisch anmutenden Farbexperimentes ausbrechen. Ja, hier ist Schönheit am Werk. Doch kommen wir erst einmal zu dem traurigen Aspekt des Artikels: Es ist nämlich nicht sicher, dass wir es tatsächlich mit dem Heide-Dornfinger zu tun haben. Weltweit umfasst die Familie Cheiracanthium knapp zweihundert Arten und in Europa kommen immerhin noch 25 von ihnen vor. Nach längerem Abwägen bin ich aber zu dem Schluss gekommen, dass neben dem Heide-Dornfinger nur noch Pennys Dornfinger (welch bescheuerter Name, wahrscheinlich der Erstbeschreiber dieser Art) - Cheiracanthium pennyi - in Frage kommt. Beide bewohnen dasselbe Habitat: offene Landschaften mit niedriger Krautvegetation und es heißt, dass man sie äußerlich (sozusagen makroskopisch) nicht unterscheiden könne. Und etwas geschluckt habe ich schon, als ich bemerkte, dass die Beschreibung beider Arten auch nicht so ganz auf die Spinne der Fotos passt. Es heißt für den Heide-Dornfinger, dass sein Prosoma (Oberkörper) und seine Beine gelb-braun bis grünlich seien. Für Pennys Dornfinger wird die Oberkörperfarbe mit orange-bräunlich angegeben und die Beine seien teilweise grünlich. Tja, was tun? Die Spinne auf den Fotos hat definitiv einen orangen Oberkörper und orange Beine. Die Beschreibung des Opisthosoma (Hinterleib) jedoch passt perfekt zu "meiner" Spinne. Langer Rede kurzer Sinn: Es muss eine der zwei genannten Arten sein und nach langem Bildervergleich tendiere ich ganz klar zu dem Heide-Dornfinger, der insgesamt auch viel häufiger vorkommt. Letzte Bestimmungssicherheit bekommt man allerdings nur über die Untersuchung der Genitalmorphologie, bei der sich beide Arten unterscheiden. Und so langsam wird dieser Artikel an Fahrt aufnehmen, denn wir nähern uns den etwas dunkleren Gefilden des Seins. Spinnenforscher - auch Arachnologen genannt-, sind häufiger auf die Untersuchungen der Genitalien angewiesen, um Arten sicher bestimmen zu können. Und diese Untersuchung geht eben nur bei schon toten Tieren. Ihr werdet mir zustimmen, dass man hier zumindest von einer Spielart der Nekrophilie sprechen muss. Und Genitalien waren bei der Gattung der Dornfinger ebenfalls namensgebend. Ich muss zugeben, dass meine erste Assoziation des Gattungnamens eher in die Bereiche der B-Kategorie des Splatter-Horror-Films fielen. Hätte Jack Arnold unser kleines Spinnentier gekannt, hätte er bestimmt nicht den Film "Tarantula" gedreht, sondern "Die Invasion der Heide-Dornspinnen" wäre als Klassiker in die Filmgeschichte eingegangen. Dornenbesetzte Gliedmaßen, die sich in die Gehirne der menschlichen Bevölkerung bohren: das Drehbuch ist schon fast geschrieben. Doch auch hier wären Sexualphantasien besser am Platz, denn "Dornfinger" bezeichnet einen Teil des Genitalapparates der männlichen Spinnen. Auch wenn meine Leser schon in Begeisterung geraten und sich die Frage stellen, ob "Dornfinger" nicht auch für die menschliche Sexualität genutzt werden könnten, muss ich folgendes ernüchterndes Zitat hinterherschicken: "Dornfinger" bezieht sich auf den "dornartigen Fortsatz an dem Cymbium genannten, umgestalteten Tarsus der männlich Pedipalpen, ..." (Wikipedia) Bei diesem Satz ist mir die Lust vergangen, noch weiter nachzuforschen.
Doch worauf sitzt nun unser potentieller Heide_Dornfinger? Hier müssen ein paar Worte zur Lebensweise der Spinne genannt werden. Cheiracanthium erraticum ist hauptsächlich nachtaktiv und tagsüber hält sie sich in einem Wohngespinst auf und wartet auf die Dämmerung, um in ihr Jagd auf Beute zu machen. Nun, aber sie sitzt doch auf dem Wohngespinst? Ja, gleichzeitig dient die Behausung der Eiablage, die von dem weiblichen Tier bewacht und notfalls verteidigt wird. Ich gehe deshalb davon aus, dass sich die Spinne irgendwie gestört fühlte - vielleicht von mir - und schon einmal sich darauf vorbereitete, möglich Feine - mich - abzuwehren. 
Und zu guter Letzt lassen wir das gesamte prosaische Beiwerk von Artbestimmung, Genitalien und Behausung beiseite und wenden uns dem ästhetischen Aspekt der Spinne zu. Ich denke, ihr stimmt mir zu, dass man den Blick lange nicht von ihr abwenden möchte. Und eigentlich erblickt man etwas, was alles vorher Geschriebene in einen Dunst der Nichtigkeit schiebt. Hölderlin schreibt an einer Stelle des Hyperion über das Kind: "Es ist ganz, was es ist, und darum ist es so schön". (Friedrich Hölderlin, Gesammelte Werke, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main, S. 318) "Es ist ganz, was es ist" und es macht eigentlich keinen Sinn, es in Einheiten aufzuteilen, abzuwägen und die Genitalien zu verstümmeln. Die Schönheit ist in ihm, da es ein lebendiges Ganzes darstellt, dass in der Lebendigkeit Stolz und Schönheit verströmt. Vielleicht geht auch etwas von dem in den Betrachter über. Dann könnten wir mit Hölderlins utopischen Worten schließen: "Eines zu sein mit allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden, das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der Mittag seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert und das kochende Meer der Woge des Kornfelds gleicht".(Friedrich Hölderlin, Gesammelte Werke, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main, S. 316)  "Ins All der Natur zurückzukehren", eine Ganzheit zurückzugewinnen, vielleicht kann dies für einen Augenblick in einem meditativen Betrachten gelingen.
   

Die Früchte des japanischen Staudenknöterichs

(17.11.2020)


Die Lust an der Nicht-Funktionalität

Fragil und leicht hängen die Früchte des japanischen Staudenknöterichs (Fallopia japonica) an den Zweigen des Blütenstandes und scheinen sich ganz dem Spiel des Windes hinzugeben. So heißen sie nicht umsonst Flügelfrüchte und warten darauf, von den Ästchen gerissen und zu den künftigen Keimplätzen getragen zu werden. So ist in ihnen eine Funktionalität eingeschrieben, die eben in der geschlechtlichen Fortpflanzung begründet liegt. Doch traut eurem biologischen Schulwissen nicht zu sehr. Denn die auf den Fotos zu sehenden Früchte haben sich außerhalb eines jeglichen Funktionszusammenhanges gestellt und gefallen sich darin, einfach da-zu-sein. (Pseudo-Heidegger-mäßig habe ich gekonnt die Bindestriche zwischen die Wörter platziert, was, so hoffe ich, ein anerkennendes Nicken meiner Leser zur Folge haben wird.) Ein Luftspiel außerhalb allen Sinngefüges von Grund und Wirkung, sondern ein Schweben in der Präsens, das auf den Betrachter sinnlich wirkt. Wie das? Die Erklärung ist prosaisch einfach: In Deutschland kommen fast nur weibliche Formen von Fallopia japonica vor, was zur Folge hat, dass die Blüten nicht bestäubt werden können. Trotzdem werden manchmal Früchte ausgebildet, die aber nicht keimfähig sind, was bei fehlender Bestäubung nicht weiter verwundert. So schaukeln und wiegen sie sich im Wind, den Scheinsamen in sich tragend, der hier nur den Regeln (wie paradox) eines sinnfreien ästhetischen Spieles folgt. 
Fast haben die Fotos etwas von einer minimalistischen japanischen Tuschezeichnung, die geradezu nach dem Rezitieren eines Haikus schreit:

"Wie bewundernswert ist doch,
wer nicht denkt: "Das Leben [pflanzt sich fort]",
wenn er eine[...] [Frucht] sieht"
 
Das Orginalgedicht stammt von Matsuo Basho, und ich habe mir die Freiheit genommen, in der letzten Zeile das Wort "Blitz" durch das Wort "Frucht" und in der zweiten Zeile "ist vergänglich" durch "pflanzt sich fort" zu ersetzen. Vielleicht nicht mehr ganz so literarisch ansprechend wie bei dem japanischen Dichter, doch die philosophische Grundaussage bleibt dieselbe: Unser Denken ist in Konvetionsmuster eines rationalen Denkens erstarrt, aus dem uns der Haiku und die Flügelfrucht des japanischen Staudenknöterichs herausführen möchten. Kampf dem auf ein Ziel gerichteten Sinn.
Trotz oder vielleicht auch gerade wegen des ästhetischen und philosophischen Potentials des japanischen Staudenknöterichs, hat er ausbreitungstechnisch einen Siegeszug sondergleichen hingelegt. Und leider muss ich hinzufügen, dass dies nicht der Leichtigkeit seiner Früchte zu verdanken ist. 
Fallopia japonica ist eine sogenannte hemerochore Pflanze, die ethelochor ihren Weg nach Europa gefunden hat. Ha, alles klar? "Ethelochor" bezeichnet die bewusste Einführung von Pflanzen in eine Region, in der sie nicht heimisch ist, und "hemerochor" bedeutet die Ausbreitung durch Kulturtechniken. Ursprünglich stammt der japanische Staudenknöterich aus Japan, China und Korea und wurde 1825 nach Europa gebracht und diente dort zuerst als Zier- und Futterpflanze. Tja, und einmal verwildert, gibt es kein Halten mehr. Denn der eigentliche Erfolg von Fallopia japonica liegt in ihrer ungeschlechtlichen Fortpflanzung begründet. Schon kleinste Rhizomteilche, die aus dem Boden gerissen wurden, reichen der Pflanze, um neue Triebe zu bilden. Das Rhizom ist ein Spross, der unter der Erde weiterwächst und Wurzeln und neue Pflanzen austreiben lassen kann. Tja, und hat es ein Rhizomteilchen mal geschafft, an die richtige Stelle zu gelangen, können nach einigen Jahren ganze japanische-Knöterich-Areale entstanden sein, was durchaus problematisch ist: Denn wo Fallopia japonica sich ausbreitet, da wächst im wahrsten Sinne des Wortes kein Gras mehr. Dies liegt in ihrer Wuchsweise begründet: Zuerst senkrecht rasend schnell nach oben wachsend, verlagert die Pflanze schon bald ihr Wachstum in die Horizontale, was durch die großen Blätter auf der einen Seite gut für kleinwüchsige Menschen ist, die Schatten suchen, jedoch schlecht für andere Pflanzen, die unter ihr Platz finden möchten. In der Schweiz hat es das poetische Wesen sozusagen schon geschafft, auf die Liste des Ausgestoßenen zu gelangen und wird mit allen Mitteln bekämpft.
Dabei hat sie neben ihren poetischen auch noch kulinarische und heilwirksame Qualitäten. Die jungen Triebe schmecken roh phantastisch säuerlich erfrischend und auch als Gemüse sollen sie vorzüglich sein, was ich allerdings noch nicht ausprobiert habe. Und die Heilwirksamkeit? Als Stichworte sollen hier "antiviral", "entzündungshemmend", "antitumorigen" und "fungizid" genügen. Eine wahre Allrounderin.
So versenken wir uns zum Schluss noch einmal in das windgetränkte leichte Spiel der Fotos und prosten der asexuellen Funktionslosigkeit mit klingenden Gläsern zu.     
 

Myko-Kitchen 

(auf Titel klicken, dann geht es zur Seite "myko-kitchen")

(27.06.2020)

Die Sinnlichkeit des Mykos

Die Rubrik „Orte“ auf meiner Homepage wandelt in ungewohnten Gefilden und wagt einen Ausflug in die Virtualität des Ortsraumes. Eigentlich ganz im Sinne eines postmodernen Denkens müsste Michel Foucault, der den Ausdruck der „Heterotopie“ geprägt hat, beglückt auf die nun 

folgenden Zeilen blicken. „Heterotopien“ sind eine Form von utopischen Gegenräumen, die allerdings – im Gegensatz zu Utopien – tatsächlich im Raum verortbar sind. So wäre das Schiff für Foucault eine Heterotopie par excellence. Auf der einen Seite ist es ein ökonomisches Instrument, das Waren transportieren kann. Dann jedoch legt sich auf ihn ein zweiter Raum der Heterotopie, der als „grand réserve d’imagination“ beschrieben wird – man denke beim Schiff an den romantisch konnotierten Aufbruch ins Ungewisse, der festgefügte Grenzen ins Wanken bringt. Und dieser Raum der Imagination ist in der Lage neue Diskurszusammenhänge zu schaffen. 

Schön und gut – doch wir haben es ja bei „Myko-Kitchen“ mit einem virtuellen Raum zu tun, der jedoch ebenso verortbar ist – schließlich gibt es ja eine Ortsadresse - und tatsächlich grenzverschiebende Eigenschaften und Imagination in sich birgt. 

Die letzten beiden angesprochenen Punkte stehen für mich in einem direkten Zusammenhang mit dem Wort „Sinnlichkeit“. Ja, „Myko-Kitchen“ ist sinnlich, und bevor ich dies näher auszuführen versuche, sei erst einmal gesagt, worum es bei der Webseite geht. Tja, Überraschung, Überraschung: Es geht um Pilze und Küche. Jeweils wird ein Pilz in den Vordergrund gerückt, Informationen zu ihm geliefert, auf mögliche Heilwirkungen eingegangen und dann Rezepte vorgestellt. Neben der kulinarischen Seite werden aber auf „Myko-Kitchen“ – teilweise durch Gastbeiträge – weitere interessante Aspekte des Mykos beleuchtet, die nichts mehr mit Kulinarik zu tun haben. So z.B. wird die Bedeutung von Pilzen für Bienen behandelt, ein Einblick in die Welt der phytoparasitischen Pilze gewährt und dem Phänomen der „spalted woods“ nachgegangen, bei denen Pigmente bestimmter Pilze das Farbspektrum von Holz verändern. Und daneben ist Tanja Major – so der Name derjenigen, die das alles zu verantworten hat – ein zertifizierter Pilzcoach, was sich in einem Kursangebot auf ihrer Seite niederschlägt: Pilzkörbe gestalten, Giraffenholz schnitzen, Pilz- und Kräuterwanderungen mit anschließendem gemeinsam Kochen…wer nicht spätestens jetzt auf ihre Seite geklickt hat, ist selber schuld. 

Doch kommen wir zurück auf die Begriffe „Sinnlichkeit“, „Imagination“ und „Grenzverschiebungen“. 

Ein erstes sinnliches Moment der Seite sind die wirklich gekonnt in Szene gesetzten Pilze und Pilzgerichte. (Tanja Major ist Foodfotografin und gelernte Köchin – ihr seht, um phantasieloses Pfannengebrutzel mit Zwiebeln und Sahnesauce wird es hier nicht gehen) 

Sowohl die Pilze als auch die zubereiteten Gerichte verströmen im besten Sinne des Wortes Lust. Man erkennt schon hier, dass Pilze aus „Diskurszusammenhängen“ gerissen und in neue Räume eintreten. Als Beispiel dienen die beiden oberen Fotos, die über dem Artikel zu sehen sind. Das pilzliche Geschöpf wirkt ja schon etwas verschroben unheimlich und schon der Gedanke, es essen zu wollen, wird bei meinen Lesern nur ein entsetztes Kopfschütteln hervorrufen. Es handelt sich um den Maisbeulenbrand – Ustilago maydis – und gehört zu den Brandpilzen, die sich parasitär von bestimmten Pflanzen ernähren. In unserem Falle befällt Ustilago maydis den Mais und ist in Mexiko als Huitlacoche bekannt. Und dort wird er auch tatsächlich als Speisepilz geschätzt. „Myko-Kitchen“ greift diese Traditionslinie auf und präsentiert zwei Rezepte – einmal Huitlacoche mit Omelette, einmal mit Taco. Das Resultat der Omelette-Variante kann oben links betrachtet werden. 

Unten rechts nun ist die Stinkmorchel – Phallus impudicus - zu sehen. Um Gottes willen: der obszöne Schwanz zerschnitten und gegart – soll hier ein moralisches Zeichen gesetzt werden? Nein, nein, wie meine geneigten Leser bereits wissen, entwickelt sich Phallus impudicus aus einem Hexenei, deren Inneres von einer Gleba umgeben ist. Wenn die weisse Haut mit der Gallerte entfernt ist, offenbart sich durchaus ein schmackhafter Pilz und die Präsentation auf dem Teller lässt sicher auch den größten Zweifler das Wasser im Munde zusammenlaufen. 

Und unten links? Ja, Wetter- und Erdsterne, von denen ich auch nicht gewusst hatte, dass sie essbar sind. (Sind sie auch nur zum Teil - anscheinend wird in Asien nur ein bestimmter Wetterstern, Astraeus odoratus, gegessen. (Also, nicht den erstbesten gefundenen Erdstern in den Kochtopf wandern lassen!) In dem auf Myko-Kitchen präsentierten Rezept stammen die Wettersterne aus einer Dose aus dem Asia-Shop, denn in Asien ist der Pilz eine ausgesprochene Delikatesse. Das Rezeptresultat ist ein Glasnudelsalat mit knackenden Wettersternen – ja, Crunchyness scheint ein Wesensmerkmal dieser pussierlichen Wesen zu sein. 

Noch einmal nachgefragt. Worin besteht nun die Sinnlichkeit , und auf ihr aufbauend die Imagination und Grenzverschiebung von Myko-Kitchen? Sinnlichkeit ist im implizierenden Blick der Fotos anwesend – gewisse ästhetische Potentiale werden in die Realität geholt. Sinnlichkeit der Zubereitung, die sozusagen das Potential, das in sich schlummernde Wesen, der Pilze neu erfahren und erleben lässt. Imagination ist demnach hier ein besonderer Zugang zu Welt. Dinge neu denken, in neue Zusammenhänge und Zusammenstellungen setzen. (Hier fällt mir das Rezept des „Chaga-Veilchen-Schoki“ ein.) Und Grenzverschiebungen? Wie alles auf der Welt ist das Leben vollgesogen mit Komplexität, die unser Denken und unsere Wahrnehmung nur zu oft in eine Eindimensionalität herunterbrechen. So auch die Welt der Pilze. Diese Welt (wie alle anderen auch) ist nicht eindimensional: Sie ist aufregend und bietet Platz für alles: auch für die Imagination.

(P.S. Die Fotos dieses Beitrages stammen von Tanja Major und sind auf "myko-kitchen" veröffentlicht)

Karussell und Geier in Addis Abeba

(17.04.2020)

Verfluchte Symbolik

Die oben zu sehenden Fotos haben definitiv meinen kreativen Fluss in ein armseliges, vom völligen Versiegen bedrohtes, Rinnsal verwandelt. Schon länger als einen Monat ist es her, dass ich sie hochgeladen hatte, jedoch schreckte ich davor zurück, auch nur ein Wort in die Tastatur zu tippen. So langsam habe ich eine Ahnung davon bekommen, woran es liegen könnte: die jeglichen feinsinnigen Ästhetizismus beleidigende Offenheit der Symbolik, die einem ihre Bedeutung in die Augen schmettert. Da haben wir zum einen einen Geier auf einem Hausdach, zum anderen ein stillstehendes Karussell in einer etwas trostlos wirkenden städtischen Landschaft, in die sich jedoch eine dichte Baumreihe horizontal eingeschoben hat. Nunja, Geier, stillstehendes Karussell, was anderes als der Stillstand des Lebens und der schon eingetretene Tod könnten in diesen Fotos stecken? Und dann noch der Aufnahmeort: Addis Abeba, die Hauptstadt Äthiopiens und vielleicht die einzige Hauptstadt der Welt, in dessen Name sich ein Sehnen nach Poesie verbirgt: auf Amharisch bedeutet Adids Abeba „Neue Blume“. Diese Konnotation werden jedoch nicht viele Mitteleuropäer haben, wenn sie an die Hauptstadt in Ostafrika denken. Noch zu präsent scheinen die Bilder der Hungerkatastrophe Mitte der 80er-Jahre, und noch immer scheint sich das Land nicht von diesen Bildern, die sich in das kollektive Gedächtnis der gesamten Welt eingeschrieben haben, lösen zu können. So haben wir nun: Geier, stillstehendes Karussell in trostloser Landschaft und Addis Abeba. Ich erspare meinen Lesern die zum Klischee geronnene Symbolik hier weiter aufzuführen.

Doch interessant ist es, wie Bilder in unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Assoziationen hervorrufen können. Hätten vor drei Monaten die Fotos nur eben angedeuteten Sinnzusammenhang angedeutet und wären nicht aus dem lokalen Geschehen Äthiopiens herausgekommen, so haben sich sozusagen ihre Bedeutungszusammenhänge ins Globale erweitert: Geier, Stillstand des Karussells, Corona-Virus. Eine Substantivreihung, die geradezu für die heutige Zeit geschaffen worden ist: der drohende Tod, der Stillstand des öffentlichen Lebens und trostlose städtische Landschaften, aus denen sich das Leben herausgeschlichen hat.

Gut, trotz alledem haben sich die Fotos nicht von ihrer inhärenten Symbolik befreit, was nun die folgenden Zeilen sich zu leisten vorgenommen haben.

Zuerst allerdings noch einmal kurz zur Aufnahmesituation der Fotos: Sie gehören tatsächlich zusammen. Morgens nach der ersten Nacht in einem Hotel in Addis Abeba gingen wir in das oberste Stockwerk, in dem sich der Frühstücksraum befand. Von einer kleinen Terrasse aus hatte man den Blick, der auf das Karussell hinausging. Und direkt darüber auf das Dach setzte sich der zu sehende Geier. Also haben wir es wiederum mit einem kleinen Augenblicksensemble zu tun.

Wie befreien wir nun aber das Ensemble von unserem kulturell geprägten Blick, der nur eine Lesart der Fotos zuzulassen scheint?

Eine erste Antwort gibt uns die Korona-Krise selbst. Bedeutet doch in ihr der Stillstand des (öffentlichen) Lebens gerade seinen Erhalt. In diesem Sinne hätte auch der den Tod verkündende Geier dem Karussell den Rücken gekehrt und kann seine menschlichen Opfer nicht finden.

Doch Blicke können auch durch andere kulturellen Prägungen gezeichnet sein. Im alten Ägypten scheinen Geier das mütterliche Prinzip darzustellen, mit denen die beiden Muttergöttinnen Mut und Nechbet assoziiert waren. Hier spiel wahrscheinlich die große Flügelspannweite der Vögel eine Rolle, die Schutz unter ihren Flügeln implizieren. Und so wäre der Stillstand des Karussells und die Abwesenheit von Kinderschreien in ihm nur ein vorübergehender Zustand, denn die breiten Flügel des mütterlichen Tieres werden über es wachen. (Vergessen wir lieber hier, dass sich das Tier auf den Fotos dem Karussell abgewendet hat....Sonst klappt diese Lesart einfach nicht.)

Doch am Ende schlage ich eine weitere Lesart vor, die sich allen kulturellen Prägungen, ob vergangenen oder heutigen, entledigt hat:

In Addis Abeba, der neuen Blume, hat sich auch ein völlig neues Leben entwickelt. Die Blume ist aufgegangen und verströmt einen lieblichen Duft, dem nun auch die Geier verfallen sind. Das menschliche Konstrukt des Karussells steht nicht eigentlich still, sondern wurde eigens für die Geier konstruiert. Und in den Abendstunden, nach getaner Arbeit, segeln kleine Geierfamilien in die leeren Sitze des Karussells, während ein städtischer Angestellter die Konstruktion zum Drehen bringt. Welch ein liebliches Gekrächze sich dann von diesem Ort erhebt, dem die Einwohner Addis Abebas in kindlicher Freude lauschen. (Nun, auch hier haben wir den verfluchten Tatbestand des stillstehenden Karussells und des abgewendeten Geiers nicht ganz gelöst, ganz zu Schweigen von dem Leben implizierenden Drehen des Karussells -  doch seis drum, anscheinend bin ich letztendlich doch an der Symbolik kläglich gescheitert.)


Der Blutbrustpavian

(16.02.2020)

Schon wieder Blut

Mir fällt auf, dass meine Beiträge auf dieser Homepage viel mit Blut und Tod zu tun haben, doch diesmal bin ich tatsächlich unschuldig, denn die Tiere auf den Fotos nennen sich tatsächlich Blutbrustpaviane. Sind meine Streifzüge zu großen Teilen nicht über die Bröcke, Eifel, Lank Latum und Knechtsteden herausgekommen, stell sich mein geneigter Leser nun sicherlich die Frage, ob die Klimaerwärmung jetzt auch die Fauna in Nordrhein-Westfalen durcheinandergewürfelt hat: Erste Blutbrustpaviane im Münsterland gesichtet und bis sich die ersten Krokodile im Rhein tummeln, wird es auch nicht mehr lange dauern. Doch nein, Fridays for future machen weiterhin Sinn und noch ist es vielleicht nicht zu spät, denn die Affen auf den Fotos habe ich in den Simien-Mountains im Hochland von Äthiopien getroffen. Ich war bei der Familie einer äthiopischen Freundin zu Besuch und für eine Woche machte ich mich alleine auf, um etwas vom Land zu sehen. Die Reise führte mich nach Gondar, die alte Kaiserstadt Äthiopiens. Der Simien-Nationalpark liegt in der Nähe und so fuhr ich an einem Tag mit einem vor Ort gebuchten Führer - der gleichzeitig ein entfernter Verwandter der Familie war - los, um die Bergwelt Äthiopiens etwas näher kennenzulernen. Tja, von der Bergwelt habe ich nicht viel gesehen, was jetzt nicht an meinem Führer lag, sondern dem erbärmlich schlechten Wetter geschuldet war. Es schüttete wie aus Kübeln und die Berge waren die meiste Zeit in tief hängende Regenwolken gehüllt. Auch mein Schuhwerk war alles andere als bergwelttauglich, und so rutschte und stolperte ich die kleinen Pfade entlang, was meiner guten Laune jedoch keinen Abbruch tat: Eine gewisse Magie hatte die Wanderung allemal. So wirkten die Baumsilhouetten mit ihren wehenden Bartflechten an den Ästen gespenstisch schön und aus dem Dunst vernahm man seltsame Vogelstimmen. Und plötzlich stoppte mein Führer und zeigte mit dem Finger nach vorne. Eine Art Wiese breitete sich vor uns aus und auf ihr sah man unzählige Affen - die Blutbrustpaviane, auch Dscheladas genannt. Und ja, was man auf den Fotos nicht unbedingt sieht: Es waren bestimmt um die Hundert von ihnen vor uns, die im Gras saßen und im besten Sinne des Wortes weideten, denn Dscheladas ernähren sich von Gras und Wurzeln. Mein Führer sagte mir, dass ich, wenn ich mich langsam bewegte, zu ihnen gehen könnte. Mit etwas Skepsis ging ich los und wartete darauf, dass sich ein bemähntes Männchen auf mich stürzen würde und seine vegetarische Diät in einem menschlichen Blutrausch vergäße - doch tatsächlich, ich kam ihnen ganz nah, hockte mich nieder und beobachtete sie, wie sie die Halme aus dem Boden rissen und in ihr Maul stopften. Teilweise hätte man sogar seinen Arm ausstrecken und sie berühren können. Doch so weit wollte ich mein Glück auch nicht auskosten und fingeramputiert hätte ich nun auch nicht die Gelegenheit, diesen Text in die Tastatur zu tippen. Und für einen kurzen Moment hatte auch der Himmel ein Einsehen, und es klarte für ein paar Minuten auf. (Drei der oben zu sehenden Fotos sind in dem Moment entstanden.) Um nun das rechte obere Foto zu erklären, muss ich etwas auf die Lebensweise der Blutbrustpaviane eingehen. Und schon hier sei angemerkt, dass nicht ich es war, der den Tieren einen solchen Schrecken eingejagt habe, dass sie sich schützend in einem engen Kreis zusammenkauerten. Dscheladas leben in kleinen Gruppen zusammen, die entweder aus einem Männchen, mehreren Weibchen und dem Nachwuchs oder aus reinen Männergruppen bestehen. Wenn das Nahrungsangebot gut ist, schließen sich mehrere Kleingruppen zu großen Verbänden zusammen, was bei den Blutbrustpavianen, die ich traf, der Fall war. Und nun - wie konnte es anders sein - setzte von Neuem starker Regen ein und die Dscheladas stürzten aufeinander zu und suchten in kleinen Gruppen (wohl die kleineren Kerngruppen) gegenseitig Schutz. Ein anrührendes Schauspiel, bei dem ich sogar den Gedanken an das namensgebende Blut vergaß und irgendwie ein zartes Mitfühlen in mir wahrnahm. In diesem Moment hätte auch ich mich gerne zwischen sie begeben.
Zu den Dscheladas - oder auch Theropithecus gelada auf lateinisch - sei noch erwähnt, dass die Weibchen die Kleingruppen anführen. Und auch sie treffen die Wahl ihres Männchens. Zwar kommt es auch zu Kämpfen, bei denen ein Männchen ein anderes aus einer Gruppe vertreiben will, um selbst aufgenommen zu werden - jedoch haben sie da die Rechnung ohne die Weibchen gemacht. Sie bestimmen, welches Männchen in ihre Gruppe aufgenommen wird - und dies kann durchaus das im Kampf unterlegene sein. So ähnlich, wie wenn Cameron Diaz einen arbeitslosen Straßenkehrer heiraten würde. Wie herrlich wäre doch die Welt.
Kommen wir noch einmal zum Blut zurück: Blutbrustpaviane haben einen roten haarlosen Fleck auf der Brust, der während der sexuell aktiven Zeit geradezu leuchtet - auf dem linken unteren Foto kann man es erkennen. Dscheladas sind eine endemische Affenart, die nur im Hochland Äthiopiens leben. Mensch ja, es gibt schon besondere Zusammentreffen.

Tor und Brennnessel

(27.10.2019)

Der römische Kriegsgott wacht

Sträflich ist eine doch zu nette Umschreibung für das, was sich in den letzten drei Monaten auf dieser Homepage ereignet hat: nämlich nichts. Niente, nada, gähnende Leere im Nichts. Entschuldigungen habe ich wenige zu bieten, nur die eine kleine, dass sich die Pilzsaison in vollen Zügen auf den Weiden und in den Wäldern und am Bordstein entfaltet hat, und so blieb nur noch die Zeit fürs Wesenetliche: die Pilze. Die Fotos, die über diesem Beitrag zu sehen sind, haben dennoch nicht die Spur (dem ersten Anschein nach) mit Pilzen zu tun, doch sie weilen nun schon an die 100 Tage im virtuellen Raum, ohne dass ich es geschafft habe, einen Artikel über sie zu schreiben. Was hat mich abgehalten? Nun eigentlich kann es nur das Tor oder die Brennnessel gewesen sein - oder vielleicht die Orthographie? Ein Ungetüm aus drei "n" kann schon abschreckende Wirkung entfalten. Doch kommen wir tatsächlich nun auf die Protagonisten dieses Beitrages zu sprechen: Brennnessel und Tor, das zudem noch mit in  die Jahre gekommenen Schlössern verrostet einen nicht mehr ganz so wehrhaften Eindruck hinterlässt. Ich denke, dass hierin die Grund für das Wachsen der Brennnessel zu suchen ist. Holen wir etwas aus. Tore haben ja einmal den Sinn, in einer gezogenen Grenze Ein- und Auslass zu gewähren. Das Schädliche (für wen auch immer) soll in einem Außen verharren, während nur Gutes und Wohlgesonnenes Eintritt erhält. Diese Bedeutung hat unser Tor schon lange verloren. Es scheint so, als ob schon Jahre niemand mehr es geöffnet hätte, und tatsächlich ist es Teil einer Umzäunung, die das Naturschutzgebiet des Brachter-Waldes am Niederrhein schützt. Umgangssprachlich hat es auch den Namen "Depot" erhalten, was darauf zurückzuführen ist, dass es vor Jahren einmal ein von den Briten geführtes Munitionsdepot gewesen ist, das zu den größten Europas gehörte. 1996 wurde es geschlossen und Teile wurden zwei Jahre später zum Naturschutzgebiet erklärt. Das Besondere an ihm ist, dass es zu großen Teilen aus Sandmagerrasen besteht. Diese Bodenform ist in Deutschland aufgrund von veränderter Beweidungswirtschaft stark zurückgegangen, was bedeutet, dass viele Arten (ob Pflanzen, Flechten, Pilze oder Insekten), die auf diese Bodenform angewiesen sind, sehr selten geworden und teilweise vom Aussterben bedroht sind. Nicht so im Brachter Wald. Um nur die pilzliche Besonderheit herauszustellen, sei gesagt, dass von Rötlingen über Saftlinge hin zu Wiesenkeulen und Puppemkernkeulen sich so viel Besonderes in diesem Raum tummelt, dass es einem schier den Atem nimmt.

Grenze ist in diesem Fall also durchaus positiv konnotiert. Sie hilft dem schützenswerten Raum sich vor fremdem bedrohlichem Einflüssen zu schützen. Demnach soll das Tor auf den Fotos auch gar nicht mehr geöffnet werden, sondern trutzig der Artenvielfalt dienen. Trutzig? Nein, wahrhaftig – so kann man unser Tor beim besten Willen nicht bezeichnen. Jedoch hat sich ein pflanzlicher Schutzgeist seiner angenommen, der kriegerrisch sein Leben dem Planeten Mars geweiht hat. Hä, wat? Ja, die Brennnessel gilt in ihrem aufrechten mit Brennhaaren ausstaffiertem Sein dem Planeten Mars zugeordnet. (Ja, das gibt es. Pflanzen werden in einer eher spirituellen Ebene den Planeten assoziert – so gilt der Apfelbaum zum Beispiel als Venuspflanze)

Doch ein venustrunkener Apfelbaum als Schutz eines Naturschutzgebietes? Nein, definitiv, das passt nicht. So nun wächst die Brennnessel am Tor und zeigt es jedem an, nicht mit unlauteren Absichten in diesen Raum einzutreten – sonst, ja sonst bohren sich die Brennhaare in das Bedrohliche hinein und lassen es anschwellen, bis es eitrig in die Ebenen des Niederrheins hinein zerplatzt.

Angemerkt sei nun zum Schluss, dass der Geist der Brennnessel auch für das eigene Wohlbefinden ungeahnte Kräfte bereithält. Für mich ist sie zu meinen absoluten Lieblingsheilpflanzen geworden, und nach Abschluss dieser Zeilen werde ich mir einen Tee aus seinen Blättern zubereiten und an Eiter und Niederrhein denken

      

Wide Karde und Schaumzikade

(03.07.2019)

Suicidal Tendencies

Die Wilde Karde - Dipsacus fullonum - ist ein Geschöpf, dem man sich mit einer gehörigen Portion Respekt nähern sollte. Erst einmal sei ihre Größe genannt, die gut und gerne anderthalb Meter erreichen kann. Dann der Blütenkolben mit seinen spitzen Spreublättern, zwischen denen die violetten Blüten, in Reihen angeordnet, hervorschauen. Die Hüllblätter umgeben bogig in die Höhe wachsend und mit kleinen Dornen besetzt den Blütenstand und schaffen eine Art von magischem Schutzraum, den nur Menschen mit ausgesprochenen nihilistischen Tendenzen zu durchbrechen wagen. Ja, die wilde Karde ist ein wehrhaftes magisch durchwirktes Geschöpf, das mit Schwingungen in Verbindung steht, die wir nur erahnen können. Und ihr magisches Potential schließt auch Opfertiere ein, die als ätherische Wesen in ihren Pflanzenleib eingehen. Nein, von der Schaumzikade auf dem oberen linken Foto ist noch nicht die Rede, sondern von etwas, das auf den Bildern leider nicht zu sehen ist. Die Wilde Karde bildet nämlich am Stängel sogenannte Zisternenblätter auf. Diese stehen parallel zueinander und haben an ihren Seiten Häutchen entwickelt, die am Stiel hermetisch dicht anschließen und tiefe Mulden bilden - man könnte sie tatsächlich Zisternen nennen. Wenn es nun regnet, sammelt sich in ihnen das Wasser, was die Frage - die die Biologie so gerne stellt - nach der Funktion dieses Bauwerkes aufwirft. Zum einen könnten die Zisternen natürlich als Wasserreservoir dienen, zum anderen stellen sie einen Schutz vor heraufkriechenden - möglicherweise gefährlichen - Insekten dar. Jede Ameise zumindest würde bei einer versuchten Kardenbesteigung unweigerlich ersaufen. Es gibt allerdings auch eine Nahrungsfunktion, die uns zu dem Opferkultstatus der Zisternen hinführt. So enden tatsächlich kleine Insekten ihr Leben in den Wassermassen, und man geht davon aus, dass ihre organischen Stoffe von der Wilden Karde für das eigene Leben genutzt werden. So sind es auch tierische Eiweiße, die durch ihre Leitungsbahnen rinnen, und allmählich versteht man, warum man seine Finger nicht in das Zisternenwasser tauchen sollte. 
Doch kommen wir endlich auf die Schaumzikade auf dem Foto oben links zu sprechen. Auch mit Hilfe eines Insektenforums war es mir nicht möglich, die genaue Art herauszufinden, obwohl ich einen starken Verdacht habe, dass es sich um Aphrophora salicina - die braune Weiden-Schaumzikade - handelt. Im Forum gab man mir allerdings den Tipp, es besser bei Aphrophora spec. zu belassen: Zikadenbestimmung sei ein Minenfeld, wie ein Forist meinte. Und auch wenn es nun nur eine potentielle Aphrophora salicina ist: Schaumzikaden sind wundervolle Tiere. Bestimmt sind meinen verehrten Lesern bei einem Gang durch die Natur schaumartige Gebilde an Pflanzen, Bäumen und Sträuchern aufgefallen. Früher dachte man, es sei Kuckucksspeichel. Doch wir wissen es besser: Es ist das Werk der Larven der Schaumzikaden. Sie pumpen kleine Luftbläschen durch ihre Atmungsröhren in eine Flüssigkeit, die eiweißhaltig ist. Aus dem After wird sie daraufhin ausgeschieden und es entwickelt sich der Schaum, der zum einen eine hohe Luftfeuchtigkeit besitzt, die die Larven für ihre Entwicklung braucht, zum anderen schützt er auch. 
Nun, die Larven der braunen Weiden-Zikade würde ihre Heranwachsen an Weiden vollziehen, deren Säfte ihnen als Nahrung dienen.
Gut, eigentlich hätte ich mir das ebene Geschriebene sparen können, geht es doch um das ausgewachsene Tier auf der Wilden Karde. Und ja, was ist passiert? Rundherum von spitzen Stacheln umgeben sitzt Aphrophora spec. am Stiel und macht - ja, was eigentlich? Ruht sie sich aus? Saugt sie die Pflanzensäfte von Dipsacus fullonum? Nein, wir haben es hier ganz klar mit einer suizidal veranlagten Schaumzikade zu tun. Rhythmisch singend-zirpend gewahr es die mit Fluch und Tod drohenden Stacheln und flog - ein letztes Lebewohl aus ihrem Leib trommelnd - mitten hinein. Wie betäunt sitzt sie nun auf der Wilden Karde und fasst es nicht, wie sie es geschafft hat, die Todesdolche zu verfehlen. Doch sie scheint ihr Vorhaben noch nicht aufgegeben zu haben. Erinnern wir uns an die Zisternenbecken, die unter ihr mit organischer Auflösung locken. Ja, den Moment, als unsere Schaumzikade in das Wasser fiel, habe ich nicht mehr abgewartet, doch gehe ich davon aus, dass sie mittlerweile durch die Leitungsbahnen der Wilden Karde fließt. Ja, it's a kind of magic.  

Der Trauer-Rosenkäfer

(18.06.2019)

Kamillentee und postglaziale Steppenzeit

Während ich mich nun daran mache, einen Beitrag über den Trauer-Rosenkäfer - Oxythyrea funesta - zu schreiben, schlürfe ich genüsslich eine Tasse Kamillentee. Ja, das Alter, die Gebrechen. Doch nicht irgendeinen Kamillentee. Nein! Es sind Blüten des Kamillentees, die ich an dem Ort gesammelt habe, an dem auch das Foto mit unserem Rosenkäfer entstanden ist. Die Stelle liegt mal wieder am Hotspot der Funga, Flora und Fauna Nordrhein-Westfalens: Lank Latum. Zeichnet die Gegend, die ich dort aufsuche, Bruchwaldcharakter aus, so gibt es doch auch in der Nähe bewirtschaftete Felder und brache Flecken, sogenannte Ruderalstandorte. An solch einem Ruderalstandort blühte nun (bereits im Mai) in solchen Mengen die echte Kamille, dass ich mein Glück kaum fassen wollte. Nicht, dass die Kamille sehr selten wäre: Sie wächst überaus häufig, doch meist an Feldrändern, so dass ich bisher auf das Sammeln von ihr verzichtet habe. Man weiß ja nie, was unsere lieben Bauern so auf ihren Feldern versprühen und vergießen. Nun war alles perfekt: Die nächsten Felder lagen gut 150 Meter entfernt und auch die nächste befahrene Autostraße hielt gebührlich den angemessenen Abstand. So m,achte ich mich mit dem dazugehörenden Enthusiasmus daran, die schönsten Blüten abzuernten, als ich den Rosenkäfer so entdeckte, wie er sich auf den Fotos präsentiert. Er bewegte sich nicht, und es muss davon ausgegangen werden, dass er sich hemmungslos dem Pollenkamillenrausch hingab. Und schon haben wir ein Element seiner Lebensweise benannt: Die erwachsenen Tiere - sogenannte Imagos - ernähren sich von dem Pollen der Familien der Korbblüter und Doldenblüter. Und jetzt schlürfe ich einen Kamillentee aus Lank Latum, der genetische Spuren von Oxythyrea funesta enthält. Heidnisch-schamanistisches Denken breitet sich in meinem Körper aus und ich meine zu verspüren, wie Eigenschaften des Trauer-Rosenkäfers in mich übergehen. Doch welche Eigenschaften können das sein? Wieder kann es nur das gesamtheitliche Denken sein, das Gegensätze in sich vereint und nebeneinander bestehen lässt. Yeah, Dialektik sucks. Trauer und Rosen scheint ja erst einmal ein Oxymoron par excellence zu sein. Trauer und die Fülle des Lebens, die die Rose symbolisiert. Doch steckt in der Rose ja auch ihr Gegenteil - der Schmerz in Form der Dornen, so dass in der Fülle des Lebens immer auch die Verse Rilkes mitschwingen: "Der Tod ist groß/Wir sind die Seinen/lachenden Munds/Wenn wir uns mitten im Leben meinen/wagt er zu weinen/Mitten in uns.
Der Name "Rosenkäfer" bezieht sich wohl zum einen auf die Pollenernährungsweise der Käfer und zum anderen auf ihren viele Arten auszeichnenden Glanz, den man mit Rosen assoziiert hat. (So jedenfalls meine Theorie) Und Trauer verweist wohl auf die dunkle Grundfarbe des Käfers.
Gut, und hier trinke ich die Essenz des Trauer-Rosenkäfers in mich hinein. Wow.
 Jetzt aber zum zweiten Teil des Titels: postglaziale Steppenzeit. Und es wird noch besser: Der Trauer-Rosenkäfer ist ein Indikator für den Klimawandel. Sic! Nun aber der Reihe nach: Ursprünglich beheimatet ist Oxythyrea funesta vom Mittelmeerraum bis nach Kleinasien und nach Mitteleuropa kam er über Rhein, Main und Donau in der postglazialen Steppenzeit. Somit gilt er als Relikt dieser erdgeschichtlichen Epoche. Im 19. Jahrhundert war der Trauer-Rosenkäfer in Mitteleuropa weit verbreitet, doch kam es im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem dramatischen Einbruch seines Artbestandes, weshalb er in Deutschland den zweifelhaften Ruhm erlangte, auf die Rote Liste der bedrohten Tierarten der Stufe 2 (stark gefährdet) zu gelangen. Doch dies wird in Zukunft wahrscheinlich revidiert werden müssen. Oxythyrea funesta ist ein klarer Gewinner des Klimawandels. Als wärmeliebende Art und in Folge der milden Winter in Deutschland gekingt es ihm gerade wieder, sich auszubreiten. Waren Anfang der 2010er-Jahre Funde im Rheinland noch sensationelle Meldungen, so scheint er im Jahre 2019 wieder häufig (auch nördlich vom Rheinland) angetroffen zu werden.
Es kann davon ausgegangen werden, dass er bald sein Trauer-Outfit (wenn seine Trauer denn in der Nicht-Existenz begründet lag) aufgeben wird und sich mit den Kamillenblüten wohlig gelb-golden im Sonnenlicht vom lauen Wind schaukeln lässt. 

Der Fruchtstand der Küchenschelle in Blankenheim

(29.05.2019)


Der Teufelsbart

Die spinnenbeingleich anmutenden Fäden renken und krümmen sich von dem grünen Fruchtstand in nur allen erdenklichen Richtungen weg und stellen die einzelnen zottig wilden Haare des Bartes des Teufels dar. Doch sinnieren wir für einen Augenblick uns in die Metamorphose der Pflanzen hinein. Ganz gegen meine Gewohnheit habe ich nun zum zweiten Mal denselben Vertreter einer Pflanzenart zum Zentrum eines Beitrages gemacht. Bewegt man sich auf dieser Seite etwas nach unten, werden einen die Blüten der Küchenschelle entgegenleuchten, und es fällt schon schwer, zu glauben, dass wir es hier mit ein und derselben Pflanze zu tun haben. Der Fruchtstand von Pulsatilla vulgaris - so der lateinische Artname - hat die Küchenschelle in ein anderes Wesen metamorphosiert - wenn man so sagen darf. Die Anmut der purpurfarbenen Blütenhülle hat sich in ein krummbeiniges Streben und Fliehen und Wehen verwandelt, das in volkstümlicher Tradition eben als Teufelbart gedeutet wurde. (Ja, der Titel dieses Beitrages ist somit nicht auf meinem Mist gewachsen.) Wenn man so will, stehen wir betroffen der pflanzlichen Inkarnation von Dr. Jekyll und Mr. Hyde gegenüber. Und die Liste der Schandtaten des Mr. Hyde sind lang. Mit dem Teufel im Bunde markiert die Stelle des Fruchtstandes der Kuhschelle (ja, auch diesen Namen trägt sie) den Ort, an dem ein Jäger eine Hexe vom Himmel schoss. Das Grausen packte mich, als ich auf einer Magerwiese in der Eifel die zahllosen verrenkten Fäden von Pulsatilla vulgaris gewahrte. Wieviele Hexen flogen wohl durch die Eifeler Abenddämmerungen und wurden Opfer der Jageslust? Andere Quellen schreiben dem Fruchtstand der Kuhschelle die Kraft zu, kleine Gänschen in ihren Eiern ersticken zu lassen. (Warum es gerade Gänse sind und nicht Hühner konnte ich beim besten Willen nicht eruieren.)
Doch in einem Wesen ist alles eingewoben und aufgehoben: das Böse wie das Gute. Hat Pulsatilla vulgäres Teufelskraft, so hat es - symbolisiert durch seine Blüten - Engelspotential. Unter anderem gab es den Brauch, im Frühling die Blüten der Kuhschelle in ein rotes Tuch einzuwickeln und mit sich zu tragen., Dies konnte vor Krankheiten und Unheil schützen. In bestimmten Regionen wird sie auch blaue Osterblume genannt und zeigt ihre Verbindung zu dem Aufstehen, zum Erheben des Lebens an. Jedoch ist dies die Blütenseite der Pflanze. Der Fruchtstand hat teuflische Kraft.
Botanisch gesehen, ist alles furchtbar prosaisch zu erklären. Die verkrümmten Barthaare sind sogenannte Federschweife, an deren Enden am grünen Fruchtstand ein Samen in Form eines Nüsschen hängt. Das Gesamtkonstrukt der Frucht wird Federschweifflieger genannt und verweist auf die Verbreitungsstrategie der Pflanze: der Wind reißt die Nüsschen los und hilft ihnen auf dem Weg, neue Magerwiesen zu besiedeln. Doch selbst, falls die Windausbreitung nicht klappen sollte, hat Pulsatilla vulgaris noch einen Plan B, der wiederum mit dem Teuflischen zusammengedacht werden muss. Die Nüsschen können sich allein fortbewegen. Keine Angst, so skurril, dass sich kleine Beinchen aus den Federschweifen entwickelten, wird es nun leider nicht. Fällt ein Federschweif - von dem Wind schmählich verschmäht - plump neben seine Mutter, gibt es immer noch Hoffnung der Abnabelung. Und ich warne: es wird physikalisch! Ist der Federschweif bei trockenem Wetter in einem mehr oder weniger abgeknickten rechten Winkel, so streckt er sich wieder bei Regen. Gleichzeitig vollführen - choreographisch durchdacht - die Nüsschen mehrere Drehungen um die eigene Achse. (Schnallt euch vorher an, wenn ihr dieses Schauspiel mit eigenen Augen betrachten wollt. Der Sog der Geschwindigkeit kann nur teuflisch genannt werden.) Dies alles verhilft dem Nüsschen dazu, bis an die 20 cm zurückzulegen, bevor es sich in den Erdboden bohrt und den Dingen, die da kommen wollen, harrt.
Meine Güte, ich glaube, ich werde einen eigenen Blog für Pulsatilla vulgaris eröffnen - denn glaubt mit: So viel Teufelskraft ist unerschöpflich. 

Das Mordkreuz von Tilbeck

(13.05.2019)


Pilgern und Todschlag

Ganz christlich in mich gekehrt, habe ich mich auf große Pilgerschaft von Münster nach Nottuln begeben. Tatsächlich ist ein Weg zwischen diesen beiden Städten mit der Jakobsmuschel markiert und zeigt den nach Erlösung und inneren Reinigung Strebenden den Weg nach Santiago de Compostela. So weit wollte ich die Einkehr jedoch nicht betreiben, sondern beließ es bei dem Ziel Nottuln. Gut, mystische Schauer werden bei der Nennung dieses Ortes sicherlich nicht ausgelöst, jedoch ist der Weg sehr schön und einfach zu gehen, denn die einzigen leichten Anstiege führen am Fuße der Baumberge vorbei. Der Ausdruck "Berge" ist für sie etwas hochgegriffen, aber wenn man die flache münsterländische Parklandschaft als Kontrast ihnen gegenüberstellt, nehmen sie schon die Dimensionen gewaltiger Bergriesen ein. Genau dort - am Fuße der Baumberge - befindet sich nun auch das Mordkreuz von Tilbeck, das auf den Fotos zu sehen ist. Ist nun Nottuln als Ort nicht in der Lage, oben genannte mystische Schauer hervorzurufen, dann ist es das Mordkreuz allemal. Die Inschrift des Kreuzes lautet: INRI ANNO 1164 ALDA BI DIG CRe.IST RebOHRe T. DAS.AL=HieelNeMeIRSCHe, Tilbick VeRMORDE T IST. Anscheinend in einem niederdeutschen Dialekt wird davon berichtet, dass 1164 die Meirsche von Tilbeck vermordet worden ist. Die wahllos groß und klein geschriebenen Buchstaben und von den Worten gelösten Lettern bilden den ersten Teil einer kleinen Verwunderung. Warum um Himmels Willen ist das "T" von "vermordet" abgetrennt worden? Spielt diese Verstümmelung auf die eigentliche Verstümmelung der Meierschen von Tilbick an? Dann hätte die Inschrift allemal kreatives Potenzial. Doch ich fürchte, dass es eher der Oberfläche des Sandsteinkreuzes oder dem dilletantischen Inschriftenschreiber geschuldet war, dass das "T" einsam und getrennt vom "vermorde" seine Existenz fristen muss. Ebenso erstaunlich - wenn wir nur bei diesem Wort bleiben wollen - ist es, dass zwischen den Großbuchstaben ein einziges schüchternes "e" klein geschrieben wurde. Ist es ein kurzes Einknicken vor der Äußerung der schlimmen Tat. "Vermordung" - Schauer der Angst können einen Buchstaben schon in die Knie zwingen.
Doch wenden wir uns endlich der Meierschen von Tilbeck (so heutige Name) zu. Um sie und ihre Vermordung hat sich eine Sage entwickelt, die im Grunde so trivial ist, dass man sich wundert, dass sie es geschafft hat, mit einem Kreuz gewürdigt zu werden. (Aber Gott - im Münsterland gibt es auch Kreuze für Menschen, die von einem Pferd überrannt worden sind - warum nicht also auch ein Mordkreuz? ) Eine Bauersfrau aus Tilbeck kehrte eines Abends in einem Gasthof ein und ließ es sich schmecken und munden. Als sie die Zeche bezahen wollte, kramte sie einen Beutel hervor, der laut metallisch klimperte, so dass zwei Landsknechte, die in der Nähe saßen, aufmerksam wurden und in dem Beutel eine Menge Münzen vermuteten. Die Bauerfrau machte sich auf den Heimweg, auf dem die zwei Landsknechte sie überfielen und erschlugen. In dem Beutel fanden sie jedoch nur Nägel, die das metallene Geräusch verursacht hatten. Mensch ja - dumm gelaufen, denn die beiden Landsknechte wurden gefasst und in Schapdetten erhängt. In einigen Quellen wird auch berichtet, dass die Meiersche besonders lange in ihrem Beutel wühlte, bis sie wohl eine Münze zwischen den Nägeln fand, um den Gastwirt zu bezahlen. Fast ist man ja versucht, auszurufen: Selber Schuld, aber das wäre wahrscheinlich nicht politisch korrekt. 
Das Kreuz markiert nun die Stelle, an der das Verbrechen sich ereignete, und meine verehrten Leser werden mir beipflichten, wenn ich noch einmal die Trivialität des Ganzen hervorhebe. Jedoch passieren wunderliche Dinge mit Bewertungen, wenn sie in die Tiefe der Zeit verschoben werden: 1164 geschah die Vermordung, vor fast 900 Jahren. Etwas Ehrfurcht vor dem Leben ergreift einen bei dieser Zahl, und der Ort schafft eine Kontinuität über das Verwesen und Vergehen hinweg, und für einen kurzen Mpment gehen wir hinein in die Szene, in der zwei Landsknechte eine Meiersche erschlugen. Ich glaube, nicht die Tat an sich, sondern die Übereinanderschichtung verschiedener historischer Zeiten und Erzählungen machen das Erhabene dieses Ortes aus. Jeden Ortes, was man auch auf einer Pilgerwanderung des Öfteren spüren und erleben und erschauern kann. 
Eine weitere Geschichte deutet sich durch die russische Ikone an, die jemand auf dem Sockel des Kreuzes platziert hat. Ist Rasputins Bruder nicht nur in Whitechapel umgegangen, um Prostituierte zu ermorden und die Unfähigkeit des FBI vorzuführen? (Siehe Artikel The Fall - Fantastic life unter der Rubrik "Literatur") Ist er etwa auch in der Nähe Nottulns aufgetaucht, um Meiersche zu erschlagen? Ich denke, ein Zeichen geht von der Ikone aus, das gedeutet werden will.    

Das Landkärtchen

(03.05.2019)


Saisondimorhismus

Landkärtchen und Saisondimorphismus sind zwei Worte, die fast schon abstrakt im virtuellen Raum nebeneinander Platz gefunden haben. So wenden wir uns erst einmal der Erklärung der Begriffe zu. Landkärtchen bezeichnet den Schmetterling, der auf den Fotos zu sehen ist. Auf seinen lateinischen Artnamen - Araschnia levana - werden wir noch gesondert zu sprechen kommen, birgt er doch ein poetisches Potential. Aber auch der deutsche Name scheint an abstrakte Möglichkeitsaufbrüche zu gemahnen, wenn man sich in die Weiten seines Wegenetzes mit der Phantasie begibt. Wegenetz? Das rechte obere Foto zeigt, was gemeint ist. Auf den Flügelunterseiten des Landkärtchens ist neben den verschiedenen Farbparzellen ein weißes verdicktes Wegnetz eingezeichnet, das dem Schmetterling seinen Namen einbrachte. Es sind die Flügeladern, die bei ihm mit weißen Schuppen besetzt sind und die Assoziation an eine Landkarte heraufbeschwor. Wer weiß, in welche Welten man gelangt, wenn man seine Wanderschuhe schnürt und sich auf die Reise den Flügeladern entlang begibt. Sicherlich in ein taumelndes Frühlingserwachen jenseits der gedeuteten Welt in den Weltinnenraum hinein. (Diese Anspielungen auf Rilke konnte ich mir nun nicht verkneifen - die Flügeladern des Landkärtchens werden es mir verzeihen.) Das Zweipaar "taumelndes Frühlingserwachen" ist nun auch nicht wahllos in die Tastatur gehämmert, womit wir an der Stelle sind, uns dem lateinischen Artnamen etwas näher zuzuwenden: Araschnia levana. Das Artepitheton leitet sich von dem lateinischen Verb "levare" ab, das so viel wie "aufheben", "erheben" bedeutet. Es bezieht sich auf die Erhebung des Lichtes, des Frühlings, die Erhebung des neuen Lebens. Und tatsächlich ist das Landkärtchen ein flatterndes buntes Zeichen einer neu erwachten Freude am Sein. (Puh, jetzt wird es doch etwas zu pathetisch) Kommen wir lieber zu dem skurrilen Ausdruck des Saisondimorphismus, der es schon jetzt geschafft hat, für mich in die Top Ten der biologischen Lieblingsbegriffe aufzusteigen. Doch was beinhaltet er? Übersetzt man ihn, käme man zu dem Wort "Saisonzweikörperlichkeit", was schon einen gewissen Sexappeal ausströmt, der an dieser Stelle aber nicht weiter vertieft werden soll. Was wir auf den Fotos sehen, ist die Frühglingsform von Araschnia levana. Ja, haltet euch fest: Es gibt auch eine Sommerform des Schmetterlings, die in ihrem Aussehen recht unterschiedlich ist. So ist man auch lange Zeit davon ausgegangen, dass Frühlings- und Sommerform zwei verschiedene Schmetterlingsarten sein müssten. Erst 1829 fand Christian Friedrich Freyer in Zuchtversuchen heraus, dass Frühlings- und Sommerform ein und dieselbe Art sind. Doch warum um Himmels Willen unterscheiden sich die Landkärtchen des Mais von denen des Julis? Einen transzendentalen Grund kann ich nicht nennen, jedoch eine wissenschaftliche Erklärung nachliefern. So hat man herausgefunden, dass bei der Entwicklung der Raupen die Tageslänge eine entscheidende Rolle spielt. Ist die Tageslänge noch kürzer, entwickelt sich die Frühlingsform des Landkärtchens. Nimmt die Tageslänge zu, metamorphosieren sich die Raupen zu der Sommerform. Verantwortlich dafür ist ein Hormon aus der Gruppe der Ecdysteroide. Bei zunehmender Tageslänge wird ein Gen, das für die Produktion dieses Hormons verantwortlich ist, aktiviert. Das Hormon wird ausgeschüttet und hasta la Vista Frühlingsform. Ich kann nur den Hut vor dem Hormon der Ecdysteroid-Gruppe ziehen - das ist pure Magie. Man stelle sich vor, Saisondimorphismus existiere unter uns Menschen. Je nach Tageslänge und der Menge eines ausgeschütteten Hormons entwickeln sich schwarze, braune, weiße, gelbe, rote, rosa, violette, blaue Babys. Rassistische Ausgrenzungen, die sich auf die Hautfarbe des Menschen stützen, wären zumindest passé; es sei denn, man fände Gründe, die blauen Januarbabys ins gesellschaftliche Abseits zu stellen. 
Das Landkärtchen ist recht häufig und oft findet man es an Waldrändern, die blühende Pflanzen aufweisen und Brennnesseln in der Nähe haben. Brennnesseln sind nötig, da an ihnen die Weibchen ihre Eier ablegen, und auch die Raupen ernähren sich von der Pflanze. Womit ich wieder bei einem meiner Lieblingsbegriffe angekommen bin: das Gefüge. Alles - Natur - Gesellschaft - Tier - Mensch - Pflanze - Pilz - kann nur in einem Geflecht dieses Begriffes gedacht werden. 
   

Die gewöhnliche Küchenschelle in Blankenheim

(15.04.2019)


Küche und Kuh

Im Pilzblog hatte ich es schon angedeutet, dass mein großes mykologisches Ziel für dieses Jahr das Finden einer Morchel ist - sei es nun Speise-, Spitz- oder Käppchenmorchel. Während Pilzbegeisterte in den Foren ihre Funde präsentieren, scheint sich mein Ziel so langsam aber sicher als unerreichbar zu erweisen. Jetzt ist als erschwerender Faktor (neben meiner offensichtlichen Unfähigkeit) das Wetter hinzugekommen. Schon wieder seit Wochen hat es nicht mehr geregnet, was jetzt das Morchelfinden nicht unbedingt vereinfacht. Doch ich habe mein Bestes gegeben, weshalb ich ja eigentlich ruhigen Gewissens jede Nacht zufrieden in den Schlaf gleiten könnte. Nein, in ihm tauchen nur verzerrte Morchelgesichter auf, die sich in allen erdenklichen grinsenden Fratzen über mich lustig machen.
Gut, was aber nun haben die Fotos der gewöhnlichen Küchenschelle - Pulsatilla vulgaris - mit dem Nichtfinden der Morchel zu tun? Wie gesagt habe ich in meinem Bemühen nichts unversucht gelassen, weshalb ich sogar die Strecke nach Blankenheim in der Eifel auf mich genommen habe. Man muss wissen, dass das Gebiet um Blankenheim zu der sogenannten Kalkeifel gehört, und kalkhaltige Böden bevorzugt vor allem die Speisemorchel. Nicht an desem Tag. Trotz allem habe ich nicht tränenüberströmt den Heimweg angetreten, denn natürlich hat die Eifel viele Kostbarkeiten zu bieten. Eine davon ist Pulsatilla vulgaris - die gewöhnliche Küchenschelle -, die auf kalkhaltigen Magerrasen wächst, von denen es auf dem Rundwanderweg, den ich ging, einige gab. Der Ort ihres Wachstums hat der Küchenschelle auch den Preis der Blume des Jahres 1996 eingebracht. Die von Loki Schmidt ins Leben gerufene "Stiftung zum Schutze gefährdeter Pflanzen" wollte damit auf den Lebensraum des Magerrasens aufmerksam machen, der in seinen Beständen stark gefährdet ist. Und mit ihm alle Pflanzen und Pilze, die die nährstoffarmen Böden zu ihrem Leben brauchen. Nebenbei bemerkt sind Magerrasen natürlich vom Menschen geschaffene Kulturprodukte und wenn man so will kein wirklicher "Naturraum". Der "wirkliche Naturraum" wäre in Mitteleuropa ein Eichen-Buchenmischwald und letztendlich ein recht artenleerer. Es ergibt sich die paradoxe Situation, dass der Mensch tatsächlich auch für die Artenvielfalt in Mitteleuropa mitverantwortlich ist. Magerrasen entsatnden durch die Beweidung von Naturräumen. Die Pflanzenschicht wurde auf diesen Flächen durch die weidenden Tiere kurz gehalten, und insgesamt verarmte der Boden, was für diverse Arten von Pflanzen und Pilzen das ideale Biotop darstellt. Nun, die ohne Düngerauftrag auskommende Beweidung der Magerrasen hat seinen wirtschaftlichen Nutzen verloren, weshalb viele Arten mittlerweile vom Aussterben bedroht sind. Die Küchenschelle nun ist bereits in einigen Bundesländern ausgestorben, in anderen gilt sie als (stark) gefährdet und kann nur dank der Schaffung von Naturschutzräumen überleben. Die Magerrasen in der Kalkeifel um Blankenheim stellen solche Naturschutzräume dar, weshalb ich auf meiner Wanderung unzähligen kleine Küchenschellen als lila-gelbe Farbtupfer im gelb-grünen Gras sah. Die Küchenschelle ist wirklich klein, weshalb man nahe an sie heran muss, um ihre wirklich atemberaubende Schönheit in sich aufnehmen zu können. Zu nennen sei erst ein mal die raue Außenhülle der Hochblätter, die stark behaart sind und einen wirklich abweisenden Charakter haben. (Tatsächlich haben sie auch eine Schutzfunktion, die darin besteht, die Pflanze auf den mageren Standorten vor Wasserverlust zu schützen.) Hinter (auf den Fotos über) den Kelchblätter eröffnet sich eine Pracht, die gerade in ihrem Farbkontrast höchste Kunst ist. Die sechs purpurfarbenen Kronblättern beherbergen in ihrem Kelch unzählige gelbe Staubblätter, die wiederum in ihrem Inneren die weiblichen Griffel umschließen, die - wie um der Ausgewogenheit zu huldigen - im unteren Bereich gelb, im oberen Bereich lila sind. Ja, hier war Perfektion im Spiel oder um mit Shakira zu singen: This is perfection. 
Doch wie ist nun der Titel dieses Beitrages zu erklären: Küche und Kuh? Durch ihre glockenähnliche Form erinnert sie an ein kleines Glöckchen - an eine kleine Schelle. Und danach kam erst einmal die Kuh. Wie schon erwähnt, wächst Pulsatilla vulgaris auf Magerrasen ganz klassisch zwischen weidenden Tieren, u.a. Kühen. So scheint die erste Assoziation des Menschen die Kuhschelle gewesen zu sein. Sozusagen haben sich die Glocken der Tiere im Boden vermehrt - ob nun vegetativ oder sexuell muss ein Rätsel bleiben. Weil alles so wunderhübsch war, wurde bald aus "Kuh" "Kühchen" und wackere Hausfrauen oder -Männer hörten "Küchen", weshalb Pulsatilla vulgaris mal Kuh- mal Küchenschelle genannt wird.
In allen Pflanzenteilen ist sie giftig, kann jedoch als Heilpflanze eingesetzt werden. Hippokrates setzte sie gegen hyterische Angstzustände und zur Menstruationsförderung ein. In der Volksmedizin spielt die Küchenschelle allerdings keine große Rolle, da sie neben ihrer Giftigkeit auch außerordentlich hautreizend wirkt, was an einem Stoff namens Protanemonin liegt. Wundsalben aus der Kuhschelle hätten also eher kontraproduktive Wirkungen.
Auch sollte man der Küchenschelle mit gehörigem Respekt gegenübertreten. denn im Volksglauben steht sie mit dem Teufel im Bunde. (Dies liegt an der skurrilen Form des Fruchtstandes.) Gift - Kuh - Küche - Teufel; ja, die Küchenschelle neben all ihrer Schönheit ein tiefgründiges Wesen.   

Die Süntel-Buche in Blankenheim

(02.04.2019)


Keltengrab und Hexenbuche

Die Reihe der volkstümlichen Namen der Süntel-Buche ist lang und reicht von Hexenbuche, Schlangenbaum über Krüppelbuche bis zum Teufelsholz. Bis zum Bersten aufgeladen mit magischer Bedeutung, potenziert der Baum, der auf den Fotos zu sehen ist, die Übersinnlichkeit durch den Ort, auf dem er wächst. Man erkennt, dass die Süntel-Buche auf einem kleinen Hügel steht, der ein keltisches Hünengrab darstellt. Ein magischer Baum auf einem magischen Ort. Man spürt es förmlich, wie ein kraftvolles Energiefeld vibrierend vom Hügel ausgeht und nach allen Seiten in die Landschaft ausstrahlt. Gleichsam scheint es, als ob sich ein heiliger Raum um den Baum ausgebreitet hat: Flächen von Magerrasen markieren eine Leere, die die Süntelbuche auf dem keltischen Grab um so wirkungsvoller in Szene setzt. Dies war in der 250-jährigen Geschichte dieses Baumes nicht immer so gewesen. Mehr zufällig fand man ihn zugewachsen zwischen Lärchen und Grauerlen und beschloss, seine skurril wirkende Wuchsweise in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Das magische Momentum dieses Exemplars von Fagus sylvatica var. suentelensis (so der lateinische Artname) ist ihm allerdings seit seinen Anfängen eingeschrieben, denn man geht davon aus, dass es absichtlich auf den Grabhügel gepflanzt wurde. Wer weiß, vielleicht spielten sich an diesem Ort druidische Riten ab, die zum Ziel hatten, die dämonische Geisterwesen anzurufen oder zu besänftigen. 
Botanisch gesehen ist die Süntel-Buche eine Variation der Rotbuche. Im 19. Jahrhundert war sie fast ausgerottet, was daran liegt, dass sie unter forstwirtschaftlichen Gesichtspunkten eine zu Holz gewordene Katastrophe darstellt. Durch ihre krumme, krüppelhafte, mal links, mal rechts ausschlagende Wuchsweise konnte sie nicht einmal sinnvoll als Feuerholz dienen, da krumm und schief gewachsene Äste und Stämme sich nicht vernünftig stapeln lassen. Die Folge war eine systematische Abholzung von Fagus sylvaticus var. suentelensis, bis sie nur noch einigermaßen sicher in botanischen Gärten als Baumkuriosum überlebte. Das größte Süntel-Buchen-Vorkommen in Europa musste 1843 einer Flurbereinigung weichen. Dieses Gebiet befand sich auf dem Höhenzug der Süntel (daher der Name Süntel-Buche) in Niedersachsen. Seit einigen Jahrzehnten hat jedoch ein wiederum  wirtschaftlich motiviertes Umdenken eingesetzt. Man erkannte das ästhetische Potential des Baumes und fing an, es touristisch zu vermarkten. So ist südlich von Reims in Frankreich ein parkähnliches Areal aus mehreren hundert, der Axt entkommenen, Süntel-Buchen entstanden, durch das ein Rundweg führt, der zu einer kleinen touristischen Attraktion geworden ist. 
Diesem Umdenken verdankt nun auch die Süntel-Buche in der Nähe von Blankenheim seine prominente Stellung als Naturschutzdenkmal. Betrachten wir noch einmal die wenigen biographischen Daten seines 250-jährigen Lebens. Mit einer heiligen Aura umgeben wurde sie auf das Keltengrab gepflanzt, bevor sie aus einer positiven Kosten-Nutzen--Holz-Bilanz herausfiel. Ihr Glück war es, dicht und versteckt zwischen Lärchen und Grauerlen zu wachsen, was sie davor schützte, gefällt zu werden. Ihre Wiederentdeckung fiel in die Zeit, als der Blick auf die Natur durch touristisches Kalkül verändert war, weshalb sie als Naturdenkmal für die nächsten Jahre sicher zu sein scheint,
Was ersichtlich wird, ist, dass das Überleben von Lebensräumen und Arten eng an den Menschen gekoppelt ist, was jetzt nicht gerade als neue Erkenntnis gelten kann. Doch vielleicht schärft es den Blick für das, was nicht das Glück gehabt hat, als Naturdenkmal deklariert zu werden.
Und habt acht: Weitere Bedeutungs- und Wirkschichten im Hexenbaum auf dem Keltenhügel warten darauf, aus den Grüften des Erddunklen ans Tageslicht zu kriechen.

Erdkröten in Bad Bentheim

(23.03.2019)


Gang Bang im Kurzentrum

Das Kurzentrum in Bad Bentheim mit seinem Solebad, das den an Hautkrankheiten Leidenden Linderung verschaffen soll, macht einen etwas in die Jahre gekommenen Anschein einer gutbürgerlichen mit sich zufriedenen Welt. Niemals könnte ein Anschein verfehlter sein als hier. Es ist ein Ort des entfesselten orgiastischen Seins, das vor den Fassaden des Sittsamen rauschende Feste feiert. Der erste Blick in das, was das Kurzentrum in Bad Bentheim wirklich ist, schenkte uns bereits der blaue Kahlkopf - Psylocybe cyanescens -, den die Kranken in rituellen Festen zu sich nehmen, um in kosmische Dimensionen einzukehren. (Siehe den Eintrag unter Pilze:  hier) Das, was ich nun im März in dem Kurpark von Bad Bentheim sah, ist nichts anderes als die Ekstase des Sinnlichen, die sich hier in einem fast schon pornographisch anmutenden Gang Bang manifestiert. Purer, schmutziger, den Kosmos erreichender Sex. Doch bevor ich zu dieser Einsicht gelang, dauerte es eine gewisse Zeit, weshalb ich im Folgenden auf die Entdeckung der Gang Bang-Kröten zu sprechen komme.
Als ich gerade den Kurpark Richtung Wald verlassen wollte, hörte ich direkt neben mir quakende Geräusche, die sich aus einem fleischlichen Klumpen lösten. Ich bekam einen gehörigen Schreck, denn der Klumpen - wenn auch schwerfällig - bewegte sich etwas wackelig und versuchte vorwärts zu kommen.  Es fiel mir schwer, die ineinander verschlungenen Körper auseinanderzuhalten, doch unterschied ich langsam krötenähnliche Köpfe und Beinchen. Ich dachte schon, es mit einer monströsen radioaktiv verursachten Mutation eines Amphibiums zu tun zu haben und suchte schnell die Sicherheit des dunklen Laubwaldes, der hinter dem Kurpark beginnt. Dort traf ich bald auf das Erdkrötenpärchen auf dem oberen rechten Foto und mir schwante, dass das, was ich als Fleischkumpen wahrgenommen hatte, nichts anderes als ein Kröten-Gang Bang war, bei dem alles erlaubt zu sein schien. Nach ungefähr zwei Stunden kehrte ich zum Ort der ausschweifenden Lust zurück. Die Gruppe hatte sich vielleicht einen halben Meter vorwärts bewegt, ansonsten war alles beim alten geblieben, auch wenn eine männliche Kröte aus dem Knäuel herausgefallen war und Schwierigkeiten zu haben schien, ins Spiel der Lust wieder aufzusteigen. Während ich das Treiben beobachtete, stellte ich mir die Frage, ob das, was ich sah, ein typisches Verhalten der Erdkröte - Bufo bufo (ja, unglaublich, dies ist tatsächlich ihr lateinischer Artname) - war. Nein, es musste etwas mit dem Kurzentrum in Bad Bentheim zu tun haben. Erdkröten sind intelligente Tiere und lernen gewöhnlich durch Nachahmung. Nur einen Schluss konnte ich ziehen, der in das geheime Wesen des Ortes einführt. In schon lauen Frühlingsnächten kommen die Kranken aus ihren Zimmern heraus und suchen die körperliche Wärme eines Mitleidenden im Schutze der hohen Bäume, die im Kurpark wachsen. Aus der Suche nach Wärme wird langsam Lust, die sich schließlich in orgiastische Lusträusche verwandelt. Die Erdkröten, die aus dem im Vorjahr herabgefallenen Laub heraus das verrenkende sich Umschlingen beobachten, wollen sein, wie der Mensch. Ein Quäken und Ächzen und Stöhnen - das ist der Soundtrack des Kurzentrums Bad Bentheim.
Kurz sei noch die biologische Erklärung des Gesehenen nachgeschoben und der verehrte Leser kann selbst entscheiden, welcher Version er mehr Glaubwürdigkeit schenken wird.
Im März machen sich die Erdkrötchenweibchen auf den Weg zu ihren Laichplätzen, wobei sie ja leider auch oft genug Autostraßen überqueren müssen, was viele nicht überleben. Nun, auf den Weg zu den Laichplätzen machen sich nicht alle Weibchen, was zur Folge hat, dass unzählige Erdkrötenmännchen Schwierigkeiten haben, einen Partner für die Paarung zu finden. Klarer Männerüberschuss. Was wir auf den Fotos sehen, ist eigentlich gar kein Gang Bang, sondern der verzweifelte Versuch der Männchen, auf ein Weibchen zu springen und es nicht mehr loszulassen, bis es am Laichplatz zur tatsächlichen Paarung kommen kann. Das monogame Pärchen auf dem oberen rechten Foto hat Glück, dass es nicht bereits von weiteren Erdkrötenmännchen gesichtet worden ist. Ihr könnt sicher sein, dass sie alles tun würden, um ebenfalls aufzuspringen. Ja, es geht so weit, dass sie alles bespringen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. So springen Männchen auf andere Männchen, auf Wasserfrösche und alles, was auch nur so ungefähr wie ein Erdkrötenweibchen aussieht. Mensch Mensch Mensch, die Hormone spielen verrückt. Es kommt tatsächlich zu der absurden Situation, dass einige Weibchen unter der Last der Männer zusammenbrechen und ihre Laichplätze nicht erreichen können. Ay, ich fürchte, die Gruppe, die auf den Fotos oben zu sehen ist, hat gute Chancen, unfortgepflanzt im Kurpark von Bad Bentheim zu verenden.
Aber nein, vergesst die biologischen Erklärungen der letzten Zeilen und begebt euch mit den Kranken und den Kröten in den hemmungslosesten Gang Bang, unter dem ihr freudetrunken zusammenbrechen werdet. 

Das Scharbockskraut

(14.03.2019)

Und ne Buddle Rum

Die Assoziationskette vom Scharbockkraut - Ranunculus ficaria - zur Buddle Rum führt über die Seefahrt und die Drei Fragezeichen, genauer gesagt über die Folge "Der Superpapagei". Und schon wieder ist es mir gelungen, einen Artikel mit rätselhaften Worten einzuleiten. Der Name Scharbockkraut leitet sich von dem alten deutschen Namen Scharbock ab, der die Vitamin-C-Mangelkrankheit Skorbut bezeichnet. Und diese befiel in hohem Maße in frühen Jahrhunderten die Seefahrer, die Monate lang auf den Weiten des Meeres zubrachten und auf frisches Obst und Gemüse weitestgehend verzichten mussten. Die Folge waren Zahnausfall, Geschwüre, Erschöpfung, verunstaltende Hautkrankheiten. Noch heute kann der Versuch gestartet werden, auf Vitamin C zu verzichten. Nach ungefähr vier Monaten wird man dann in die Liedzeilen der Band Superpunk einstimmen: "Man wendet sich ab von uns, was mich nicht wundert, denn wir sehen aus wie Kranke aus dem letzten Jahrhundert." Doch auch die Seefahrer des letzten Jahrhunderts (nun schon das vorletzte) wollten nicht aussehen wie Kranke ihres Zeitalters und dabei half ihnen das zarte kleine Pflänzchen des Scharbockskrautes. Es besitzt in sehr hohem Maße Vitamin C, und so gab es schon bald keine lange Seereise mehr, auf der Ranunculus ficaria nicht an Bord eingelagert wurde. Und komischerweise ist der erste Assoziation, wenn ich ein Scharbockskrautblatt oder eine Scharbockskrautblüte sehe, die eines ausgemergelten Seemanns, der am Hauptmast festgebunden ist, damit die stürmische See  ihn nicht über Bord spült und mit letzter Kraft ein Scharbockskrautblättchen kaut, damit seine noch im Fleisch festsitzenden Zähne dort auch bleiben mögen. Und die Drei Fragezeichen? Nun, auch auf die Gefahr hin, dass nun alles auf furchtbare Weise den Anstrich des Gekünzelt-Konstruierten erhält: Denke ich an die Seefahrt, denke ich zugleich an jenen Papageien der Folge "Der Superpapagei". In dieser Folge ging es darum, dass wertvolle Gemälde gestohlen worden waren. Da die Gemälde so bekannt waren, konnte der Dieb sie nicht verkaufen. Schließlich starb er, doch kurz vor seinem Tod hinterließ er einen Art Code, mit dem das Versteck der Bilder aufgefunden werden konnte. Und dieser Code war in den Worten von zahlreichen sprechenden Papageien versteckt. Einer dieser Tiere wiederholte nun ständig die Worte: Und ne Buddle Rum. Und der Name des Papageien? Er hieß Captain Cook - seitdem ist die Seefahrt für mich mit den Worten des Papageien verbunden, der Captain Cook hieß. In späteren Jahren las ich dann von der Kulturgeschichte des Scharbockkrautes, das ebenfalls mit der Seefahrt verbunden ist. Nun: Beim Anblick von Ranunculus ficaria steigen nun die Seefahrer, Captain Cook, ein Papagei, Justus Jonas, verschimmelte Zähne und eine Flasche Rum als Bilder vor meinem geistigen Auge auf und feiern wundersame Verbindungen.
Gleichzeitig ist das Scharbockskraut eine wirklich schöne Pflanze. Die Schönheit beginnt bei den teilweise herzförmig geformten Blättern, die wie wachsartig überzogen scheinen. In die Wachsschicht sind die Blattnerven förmlich eingekerbt und in geeigneten Lichtverhältnissen wirken sie wie die zerfurchten verhärmten Skorbut-Gesichter der Matrosen.
Die Hoffnung auf Heilung symbolisieren gleichsam die sonnendurchtränkten Blüten, deren Anblick ganz einfach erfreut.
Das Scharbockskraut ist mit eine der ersten Pflanzen, die im Frühling in Laubwäldern die braune abgestorbene Laubschicht des Vorjahres mit seinem Grün durchbricht. Das Foto oben links enstand bereits Ende Januar und die ersten Blüten entdeckte ich bereits Anfang März. Und natürlich kann man noch heute das Scharbockskraut nutzen, um die im Winter verloren gegangene Energie zurückzugewinnen. Allerdings sollte man das Kraut vor dem Beginn der Blüte einsammeln. Wie alle Hahnenfußgewächse enthält das Scharbockskraut den toxisch wirkenden Stoff Protoanemonin. Dieser Stoff wird in Ranunculus ficaria allerdings erst verstärkt bei Blübeginn eingelagert, so dass ein vorheriges Sammeln und Verwerten unproblematisch ist. Allerdings sollte man bei den Blättern immer eine Kostprobe machen. Sind sie zu bitter und zu scharf, deutet dies auf eine stärkere Konzentration des Protoanemonins hin.
Schmeckt es aber noch mild, so ist es tatsächlich das perfekte Kraut, die Frühjahrsmüdigkeit  auszutreiben und genießt man es dann noch mit einer Buddle Rum, tja, dann sind dem kulinarischen Schwelgen keine Grenzen mehr gesetzt.    
 

Giraffenholz

(07.03.2019)

Afrikanisierung eines Ahornwaldes

Jeder weiß, dass die Klimakatastrophe naht, wenn sie nicht sogar schon längst eingetreten ist. Der letzte Sommer gab ein Vorgefühl von dem, was uns Mitteleuropäer noch erwarten wird: Trockenheit, Hitze, Versteppung und extremer Wassermangel. Dass die Gefahr aber so imminent bedrohlich mit Händen greifbar ist, hätte ich nicht gedacht. Doch die Zeichen sind untrüglich: Giraffen tummeln sich in Herden unsagbaren Ausmaßes in unseren Laubwäldern und laben sich an dem noch saftigen Grün der Blätter. Zu Gesicht bekommen hat sie noch keiner, denn die europäische Art - Giraffus europeus - ist extrem scheu und versteckt sich hinter breit gewachsenen Buchenstämmen vor den Augen der Spaziergänger. Auch Jäger hatten bisher nicht das Glück, ein Tier von ihren Hochsitzen heraus zu sichten und gar zu erlegen. Nein, Giraffus europeus hat es bisher geschafft, seine Existenz geheim zu führen, doch einem aufmerksamen Beobachter entgehen die Spuren, die es hinterlässt, nicht. Auf kleinen Hölzern hat sich seine Fellzeichnung hineingekerbt und kündet von seinem Dasein. Wie ist das möglich, werden sich meine aufmerksamen Leser fragen. Die europäische und transatlantische Wissenschaftselite ist ratlos, und mal wieder, wenn absolute Ahnungslosigkeit in den Gehirnen gelehrter Männer und Frauen herrscht, dann sprießen die wildesten Theorien in die Welt. Einige behaupten, in der europäischen Art der Giraffe habe eine Transmutation eines chemischen Stoffes stattgefunden - dem sogenannten Sachronosulfitmolekül, das sich im Fell des stattlichen Paarhufers findet. Bei Berührung eines Holzes würden sich die Moleküle des Stoffes förmlich ins Holzt fräsen und das Giraffen ähnliche Muster schaffen. Im chemischen Element sei sozusagen das Gedächtnis der Fellzeichnung eingeschrieben, die auf die berührten Holzstämme übergeht.
Andere Forscher sprechen von einer Koevolution der toten Holzstücke. Um nicht von Giraffen gefunden und gefressen zu werden, haben sie in kürzester Zeit sich dahin mutiert, die Muster der Giraffen zu kopieren. Trifft nun ein gefräßiges Exemplar von Giraffus europeus auf solch ein gezeichnetes Holz, meint der Paarhufer einen Artgenossen getroffen zu haben, schnuppert vielleicht etwas an ihm, wird aber wohl dann in den meisten Fällen weiterziehen, um andere Futterquellen zu erschließen. Kannibalistische Tendenzen konnte man bei den afrikanischen Artgenossen  noch nicht feststellen. 
Die Wahrheit ist mal wieder prosaisch und wundersam zugleich: Giraffenholz hat natürlich nichts mit den wirklichen Tieren zu tun - obwohl ich von der Existenz Giraffus europeus' überzeugt bin -, sondern wird - ja haltet euch fest - von einem Pilz verursacht. Hauptsächlich verantwortlich für die Giraffenzeichnung des Holzes sind gleich zwei Pilze: Einmal das Myzel der langstieligen Holzkeule, das andere Mal das Myzel des Ahorn-Krustenkugelpilzes. Man geht allerdings davon aus, dass noch andere Pilzarten das Phänomen des Giraffenholzes hervorrufen können.  Entstehen würde das Muster dadurch, dass die verschiedenen Pilzmyzelien - bildlich gesprochen - aufeinandertreffen und sich voneinander abgrenzen. Eine Myzelvermischung hat die Natur anscheinend noch nicht zustande gebracht. Die weißen Abschnitte der Zeichnung des Holzes auf den Fotos sind sozusagen der Zwischenbereich der verschiedenen Pilzhyphen. Das Phänomen scheint nur auf Hölzern von Ahornbäumen vorzukommen, was ja auch Sinn macht, da der Ahorn-Kugelkrustenpilz nur und die langstielige Holzkeule oft auf abgestorbenem Ahornholz wachsen.
Schön ist das Giraffenholz allemal, und ich habe natürlich noch eine andere Erklärung parat: Auch Pilzmyzelien werden des Öfteren von Fernweh gepackt. Diese langweiligen Ahorn bestandenen Laubwälder: zum Kotzen. Da tut es gut, sich in die Weiten der afrikanischen Steppe hineinzuträumen. Überraschen wir nun die Pilze auf ihren Traumreisen, so entdecken wir den Traumabdruck ihres Sehnens ins Holz geprägt. 

Das Gänseblümchen

(28.02.2019)

Kindliche Traumata

Auch das Gänseblümchen lässt sich nun auf Wiesen und auf grasbewachsenen Rändern in den Wäldern finden. Der lateinische Artname ist wunderschön: Bellis perennis - die ewige Schöne. Doch launenhaft ist unsere Schöne allemal, denn sie blüht nur im Sonnenlicht, was, bei genauerem Nachdenken, nur zu verständlich ist. Unter wolkenverhangenem Himmel lasst ruhig die anderen blühen; ich vergeude meine Grazie nicht an eine mittelmäßige Inszenierung. Wie die Sonnenblume richtet das Gänseblümchen ihre Blüte nach der Sonne aus, was die enge Verbindung des Himmelskörpers mit der Pflanzenwelt unterstreicht. Was jedoch haben kindkliche Traumata mit diesem Sonnenkinde zu tun. Ich bin mir noch nicht sicher und hoffe, dass die folgenden Zeilen etwas zur (Eigen-)Aufklärung beitragen. Auch Zweifel hege ich daran, ob "Traumata"  wirklich das umschreibt, was ich in der Folge erzählen werde. Ich habe nicht zufällig "Trauma" in den Plural gesetzt, da er etwas Diffuses, Reales und Irreales zugleich beschreibt. Es ist die Rede von einem Erlebnis, das ich vor gut 40 Jahren als Schüler auf dem Pausenhof meiner Grundschule gehabt habe. Es ist so nichtig und bedeutungslos alltäglich, dass ich es kaum wage, es diesem Artikel anzuvertrauen. Doch gerade diese Nichtigkeit, diese Alltäglichkeit hat mit dem eigentlich Geheimnisvollen des Erlebnisses zu tun. Nun zurück auf den Pausenhof. Ich erinnere mich noch, dass es ein strahlend schöner Morgen gewesen ist, an dem ich mit ein paar Freunden auf einer Grasfläche neben dem Schulgebäude saßen. Die Wiese hatte kurzgemähtes Gras, zwischen dem viele Blüten von Bellis perennis herausschauten. Ich weiß nicht mehr genau, was wir im Einzelnen taten, noch wer die Freunde waren. Ich erinnere mich nur an das Zusammensitzen mit Freunden, als plötzlich das Gespräch auf die Gänseblümchen kam. Wir pflückten einige sich in unserer Reichweite bedindende und ich sagte meinen Freunden, dass man sie essen könne. Sie schauten mich ungläubig an und forderten mich auf, eine hinunterzuschlucken. Um ehrlich zu sein war ich mir gar nicht so sicher, dass man sie essen könnte und ich fragte mich wohl, welcher Teufel mich geritten hätte, damit ich dergleichen verkündete. Kurzum: Es gab kein Zurück und ich aß ein Gänseblümchen. Bald schellte es wieder und Bellis perennis gab mir keine Ruhe während des noch vor uns liegenden Schultages. Ich meinte, mich vergiftet zu haben, auch wenn nicht das kleinste Symptom sich bemerkbar machte. Doch der Gedanke ließ mich erst wohl nach der Schule am Nachmittag wieder los.
Gut, wie meine Leser sehen, handelt es sich um ein recht alltägliches kindliches Geschehen, um alltägliche nichtige Kindersorgen. Doch warum habe ich es die ganzen 40 Jahre hinweg behalten; habe viele Gesichter von Kinderfreunden in meinem Vergessen begraben, aber der Moment des Gänseblümchenessens hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt, so als ob ein Trauma mich heimgesucht, ein Dämon sich auf mich gesetzt hätte.
Ich denke, dass es mit einer Verletztheit des "Ichs", des Selbstbewusstseins zu tun hatte; und dies gleich auf zwei verschiedenen Ebenen. 
Die erste Ebene ist einfach zu beschreiben: Ich hatte mit der Essbarkeit des Gänseblümchens geprahlt und stellte mich als Eingeweihter einer fremden Welt dar. Meine Freunde forderten mich heraus, meinen Worten Taten folgen zu lassen. Und die einmal begangene Tat löste Angstgefühle einer Vergiftung aus. Ich merkte sozusagen, dass der mit Worten herbeigeführte Schein eines Selbstseins in Sekundenschnelle in sich zusammenbrach. Ein kleines kindliches Trauma. 
Doch das größere liegt auf der zweiten Ebene: Das Gänseblümchen repräsentierte eine Welt, die vollkommen fremd war und über die man nichts wusste. Eine Blume, die die ewige Schönheit repräsentiert, konnte sich als Menschen mordendes Wesen entpuppen. Obwohl das Gänseblümchen natürlich essbar ist, zeigte es mir eine Riss, der zwischen mir und der anderen Welt verlief. Vielleicht könnte man diese Ebene als die Erfahrung der Auflösung eines Hormonieganzen bezeichnen, in dem das Kind sich als Mittelpunkt eingerichtet hat. Das Gänseblümchen kündete nun von einer Aufkündigung des Ganzheitgefühls und grenzte mich als Menschen aus. 
Vielleicht zeigt das Erlebnis aber auch die allgemeine Entfremdung zu den natürlichen Dingen, die mir hier bewusst wurde. 
Tja, was auch immer es sei, wenn ich ein blühendes Gänseblümchen sehe, katapultiert es mich zu diesem Morgen auf den Pausenhof einer Grundschule zurück.
Andere Erfahrungen mit Bellis perennis kamen hinzu, hatten jedoch nicht diese Prägungskraft des ersten Erlebnisses: Ich erinnere mich an das alte Spiel des Zungeblütenabrupfens, der mit den abwechselnden Worten "sie liebt mich, sie liebt mich nicht" begleitet wurden.
Und noch eine Begegnung, die erst zwei Jahre zurückliegt: Ich nahm an einem Kräuterseminar in einem Kloster teil und dort pflückten wir Gänseblümchen, um später eine Hautcreme herzustellen. Eine alte - und sehr sympathische - Nonne leitete uns zwischen Klostermauern an, wie mit Butterschmalz und Gänseblümchen eine Hautcreme hergestellt wurde. Die im Butterschmalz gekochten Gänseblümchenblüten nahm ich mit nach Hause und bereitete sie mir mit Zwiebeln in der Pfanne gebraten zu. Doch auch dieses leckere und der fremden Natur wieder näherbringende Erlebnis hatte nicht die Kraft, die Bilder vom Pausenhof zu löschen   

  

Frühling in der Bröcke

(18.02.2019)


Die ersten Blüten des Huflattichs

Bei der Auswahl des ersten Frühlingsartikels diesen Jahres hatte ich die Qual der Wahl zwischen einem gelb-schwarz gestreiften und geköpften Feuersalamander und den Blüten des Huflattichs. Ich muss gestehen, dass die letztendliche Entscheidung für die Blüten von Tussilago farfara nicht von mir gefällt wurde, sondern von meinem fotographischen Können. Man kann ja verstehen, einen sich schnell bewegenden Feuersalamander nicht gut zu fokussieren; dass aber die Fokussierung bei einem geköpften Exemplar so dramatisch in die Hose geht, ärgert mich noch jetzt. Und um es direkt zu sagen: Ich war nicht an der Enthauptung des Salamanders beteiligt. Wie der Feuersalamander jedoch nun sein Haupt verlor, kann an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden. 
Nun gut, wenden wir uns also den Sonnen kündenden Blüten von Tussilago farfara zu und verweilen etwas bei ihrem Anblick. Vollgesogen mit den ersten kräftigeren Sonnenstrahlen des Jahres künden sie von dem Ende des Winters und dem Beginn des Frühlings.  Das kräftige Gelb erwärmt in seinem Leuchten den noch vielerorts braun gefärbten Waldboden und den Menschen, der sie schon von weitem erblickt. Ich bin zwar nicht sonderlich esoterisch angehaucht, jedoch kann es an dieser Stelle nicht schaden, mich auf Wolf Dieter Storl zu berufen, der Pflanzen als umseelte Wesen auffasst - im Gegensatz zu Tieren und Menschen, die beseelt seien. Was hat es nun mit der Umseelung auf sich? Das lebensspendende Hauptorgan - um es etwas pseudowissenschaftlich zu umschreiben - liege außerhalb der Pflanze und sei die Sonne. Beim Umgang mit Pflanzen könne man so einen Hauch von kosmischen Energien spüren, denn das Wesen der Pflanze sei außerhalb ihrer selbst. Beim Anblick der Blüten des Huflattichs kann man etwas davon spüren, bilden sie doch den Himmelkörper in Miniaturformen nach. Und der Mensch kann sich in das Frühlingserwachen des Kosmos hineingeben, indem er kosmische Schwingungen aufnimmt oder diese sich gar einverleibt, indem er die ersten Kräuter des Jahres zum Essen sammelt. Bei der heutigen Tour, die ich durch die Bröcke unternahm, habe ich zumindest doch schon einiges gekostet. (Sehr kosmisch erhellt worden bin ich leider nicht - ganz im Gegenteil plagen mich seit ein paar Tagen die Symptome einer Grippe, die jedoch nicht wirklich ausbrechen will.) Neben dem Huflattich sind auch schon andere Kräuterpflanzen zu finden: die Vogelmiere, der persische Ehrenpreis und die purpurrote Taubnessel wanderten kosmisch aufgeladen in meinen wintererstarrten Magen, um dort ein allausbreitendes Leuchten hervorzurufen. Nein: Ich habe Grippe.
Von den Blüten des Huflattichs nahm ich zwei mit nach Hause und bereitete mir aus ihnen einen Tee, der angenehm mild und etwas pfefferig schmeckte. Durchaus zu empfehlen. Allerdings sollte man Huflattich nicht länger als 4-6 Wochen als Heilkraut benutzen, da er - wenn auch in geringeren Mengen - Pyrrolizidinalkaloide enthält, die Krebs verursachen und die Leber schädigen können. Aber er hat eben auch seine guten Seiten: So soll er vor allem bei Husten und Erkrankungen der Atemwege hilfreich sein. Auch Raucher können endlich wieder Licht am Ende des Geächtetseintunnels erblicken, kann man doch die Blätter getrocknet rauchen, was - im Gegensatz zu normalen Tabakzigaretten - zur Folge hat, dass die Atemwege gereinigt werden. Juhu, Rauchen ist doch gesund. Im Volksmund ist der Name "Tabakkraut" für Tussilago farfara gebräuchlich gewesen. Der lateinische Gattungsname Tussilago wurde von dem lateinischen Wort für "Husten" abgeleitet: tussis  Rauchen und Husten also, doch in einer anderen Verbindung, als es unseren lieben Rauchgegnern lieb ist.
Als letztes sei noch die Erscheinungsform des Huflattichs erwähnt. Er besitzt die schon poetisch anmutende Eigenschaft, seine Blüten vor den Blättern zu bilden. Diese kommen aus dem Waldboden erst heraus, wenn die meisten Blüten schon ihre Früchte dem Wind überlassen haben. Ja, er kann es einfach nicht abwarten, sein kosmisch aufgeladenes Leuchten dem Winterlicht entgegenzuhalten. 

In einem Mönchengladbacher Wald

(12.02.2019)

Die Knospen des wolligen Schneeballs

Bevor ich auf die wirklich spektakulären Knospen des wolligen Schneeballs - Virbunum lantana - zu sprechen komme, muss ich einige allgemeine Betrachtungen an den Anfang dieses Artikels stellen, die mit der eigentlichen Hauptthematik dieser Homepage zu tun haben. Pilze standen und stehen ja im Zentrum des Schreibens, drohen aber immer wieder durch den Blog "Orte" an den Rand gedrückt zu werden. Insekten, Kreuze, Knospen, Küchenoberlichtfenster und Krokodile  tummeln sich hier und man fragt sich, wie denn eine sinnvolle Verbindung aussehen könnte. Und ich gebe es zu, bei den Küchenoberlichtfenstern wird es keine sinnvolle Verbindung geben, vielleicht höchstens in Form des Einbruchs des Wunderbaren in die Wirklichkeit, was ebenfalls bei der Fruchtkörperentwicklung eines Pilzes analog ganz gut als Beschreibung dienen könnte. Doch Pilze sind auch Teil eines Gefüges und existieren nicht für sich alleine. Entweder parasitieren sie andere Organismen oder leben saprobiontisch von organischer Masse. Dann gibt es die große Gruppe derjenigen, die eine Symbiose mit Bäumen oder Pflanzen eingegangen ist und bei ihren Symbiosepartnern recht wählerisch ist. Ein Goldröhrling liebt nun mal nur die Lärche, und allen anderen Liebesbekundungen anderer Baumarten zeigt er die nackte Schulter der Verachtung. So ist es nur folgerichtig, dass, wenn man einmal angefangen hat, sich für Pilze zu interessieren, auch der "botanische" Blick sich zu schärfen beginnt. Zumindest kann es für die Bestimmung nützlich sein, eine Eiche von einer Fichte zu unterscheiden. Tja, und fängt man einmal mit den Unterscheidungen an, dann wird man wie in einem Strudel in die wundersame Welt allen Lebens hineingezogen. Allen Lebens, denn bald auch bemerkt man, während man auf allen Vieren einen grasbewachsenen Streifen Waldrand auf der Suche nach kleinen Häublingen absucht, das Springen und Krabbeln kleiner Insekten, die in ihrer Form- und Farbenvielfalt unerschöpflich erscheinen. Ja, Natur kann tatsächlich nur als Gefüge gedacht werden, und somit ist hinreichend erklärt, warum es den Blog "Orte" gibt. - Nein eigentlich nicht. Denn was hat eine Knospe mit einem Ort zu tun? Ha, die Bezeichnung "Ort" wurde aus rein pragmatischen Gründen gewählt, da hier die unterschiedlichsten Heterogenitäten Platz finden werden. Eine Pietà neben der Knospe des wolligen Schneeballs - die wahre chinesische Enzyklopädie unseres Lebens.
Und diese Knospe hat es in sich. Noch immer bin ich von ihrer skurrilen Form entzückt und muss sagen, dass sie im Reich der Knospen eine der imposantesten Erscheinungen (zumindest) in Mitteleuropa darstellt. Gefunden habe ich sie letzten Monat am Rande eines lichten Laubwaldes in Mönchengladbach. Auf den Fotos sehen wir eigentlich zwei Formen von Knospen. Unten links ist eine Blattknospe zu erkennen, die nichts anderes als die Blatt gewordene Inspirationsquelle eines Designmeisterschülers sein kann. Und die Blütenknospen, die sich auf den übrigen Fotos präsentieren, müssen erst einmal in all ihrer komplexen Schönheit gewürdigt werden. Um sich vor der Kälte des Winters zu schützen, besitzen sie nicht wie andere Knospen Schuppen, sondern haben Knospenblätter entwickelt, die sich kürzer oder länger, aber immer mit einem ausgesprochenen Gefühl für Symmetrie, um die Blütenanlage mit einer schützenden Hand herumgelegt haben. Mystisch angehauchte Zeitgenossen können sicherlich eine Unzahl geheimer Chiffren, Symbole und verzauberter Tiere aus ihrer Form herauslesen. 
Dieser mystisch angehauchte Charakter der Blütenknospe wird noch durch einen kurzen Blick auf die Kulturgeschichte von Virbunum lantana unterstützt, die bis in archaische Zeiten reicht. Wurde die Gletschermumie Ötzi schon im Zusammenhang mit dem Birkenporling gebührend gewürdigt, so verschafft der wollige Schneeball ihr einen zweiten ruhmreichen  Auftritt. Neben dem Pilz fand man bei ihr einen Köcher mit Pfeilschäften, die aus dem Holz von Virbunum lantana hergestellt worden waren. Dieses Holz ist durch seine faserige Struktur sehr elastisch und schwer zu brechen und noch heute dient es dazu, Pfeile für eher traditionelle Formen des Bogenschießens zu schnitzen. 
So ist beim Anblick der Knospen von Virbunum lantana ein leichtes romantisches Schauern durchaus angebracht: Das Kontinuum rules!   
    

An einem Baumstamm in Knechtsteden

(04.02.2019)

Wenn die blaue Hand des Todes...

"Was gestern war, ist hin; was itzt das Glück erhebt,
 wird morgen untergehn; die vorhin grüne Äste
 sind nunmehr dürr und tot; wir Armen sind nur Gäste,
 ob den' ein scharfes Schwert an zarter Seide schwebt."

Jeder Pilz, dem man die oben zu lesenden Verse aus dem Gedicht "Ebenbild unseres Lebens" von Andreas Gryphius vorträgt, wird - selbst schimmelbedeckt - nur ein verständnisloses Hütchenschütteln für das Gehörte übrighaben. Das, was auf den Fotos vergangen ist, sind die Fruchtkörper eines Pilzes, dessen eigentlicher Lebenskern sich sehr wahrscheinlich höchst vital und vergnügt im Holzstamm ausbreitet und möglicherweise noch über Jahre hinweg sich der Wollust des Lebens hingibt. Doch im menschlichen Auge breitet sich beim Anblick der Fruchtkörper das barocke Gefühl der Vanitas aus und wird nun auch einige Zeilen dieses Artikels mit Wehmut besprenkeln. Doch zuallererst soll der Pilz aus seiner Namenslosigkeit herausgeführt werden, um unser Mitleiden an ihm fassbarer und ansprechbarer zu machen. Es handelt sich um den Winterhelmling - Mycena tintinnabulum. Nein, so gut kann ich leider doch nicht bestimmen, dass ich selbst Pilzmumien treffsicher einer Art zuordnen kann. Aber ich kenne den Stamm  - ja, auch zu Baumstämmen kann man Bekanntschaften und Freundschaften schließen - und ab dem späten November bis in den Dezember hinein sprießen in recht üppigen Büscheln die Winterhelmlinge aus ihm hervor. "[W]as itzt das Glück erhebt,/wird morgen untergehn" und die erhobenen Fruchtkörper von Mycena tintinnabulum hängen nun schlaff der Erde zugewandt in ihrem letzten Lebensröcheln. Wenn es nur das wäre: Ein weißer Schimmelpilz hat sich gierig gefräßig über sie hergemacht, so dass man noch nicht einmal erkennen kann, dass sie einst Lamellen unter den Hütchen trugen, an denen die Sporen neuer Winterhelmlinge keimten. Der zarte Seidenfaden ist gerissen, und das scharfe Schwert ist in aller Erbarmungslosigkeit über sie hergefallen. Auch das Farbspiel der Fotos unterstreicht den Charakter des Todgeweihten. Das satte dunkle Braun des Winterhelmlings ist einer bläulichen Kälte des Winters gewichen. Ja, hier wird kein Orchester mehr liebliche Menuette und Sarabanden zum besten geben. Das erotisierende Spiel der Sinnlichkeit ist erstarrt, Eros und Amor sind hin und der lebensspende Phallus hängt schlaff als Erinnerung an ein Gestern am Baumstamm.  
Doch eigentlich eignet den Fotos nichts am barocken Spiel der Vanitas. Wie viele barocke Gedichte sind auch die Verse von Andreas Gryphius in ein anthitetisches dialektisches Denken getaucht. Der These des Lebens steht die Antithese des Todes gegenüber. Mitgedacht werden kann die Synthese in einen göttlichen Heilsplan, der epistemisch in den Gedichten und der Zeit des 17. Jahrhunderts mitschwingt. Die Fotos nun vermitteln eigentlich nur die Antithese des Dahingeschiedenen, was auf der einen Seite natürlich wieder auf die Radikalität der Gattung der Helmlinge zurückzuführen ist. (Siehe Pilzseiten) Auf der anderen Seite ist aber ebenfalls hier die These als Nichtgesagtes anwesend. Nur der Fokus eben ist ganz auf das Dahinscheidende gelegt, bei dem in der heutigen modernen Zeit auch nicht unbedingt eine Synthese hin zu einem Ganzen geschaffen werden kann. Aber vielleicht doch: Die Synthese ist der Fortgang des Lebens selbst. Der Schimmelpilz steht hier für die unbesiegbare Vitalität des Lebens, was für den französischen Philosophen Deleuze Beweis genug für die Emergenz von Sinn wäre. Fazit: Dank des Schimmelpilzes tauchen wir, dem Barock abgewandt, in eine modernere Form des Sinnes ein.    

Im Witte Venn

(28.01.2019)

Schaurig ist's, übers Moor zu gehen

Vom Ufer starret Gestumpf hervor,
 Unheimlich nicket die Föhre,
 Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,
 Durch Riesenhalme wie Speere;
 Und wie es rieselt und knittert darin!
 Das ist die unselige Spinnerin,
 Das ist die gebannte Spinnenlenor',
 Die den Haspel dreht im Geröhre!

Diese Verse aus dem Gedicht "Der Knabe im Moor" von Annette von Droste Hülshoff stellen einige der Dinge vor, die auf den Fotos zu sehen sind, jedoch ist die Stimmung auf ihnen eine fundamental andere. Der Knabe der Verse könnte der Betrachter der Fotos sein, dessen Blick auf das "Gestumpf" zwischen den "Riesenhalme[n"] gerichtet ist. Föhren kann man im Hintergrund als kurze Stämme des Waldrandes erkennen. Doch die akustische Dimension bei Droste-Hülshoff fehlt auf den Fotos, und sie vermitteln eher eine starre Tonlosigkeit, die sich über die Heide gelegt hat. Auch "nicket die Föhre" nicht, sondern steht unbeteiligt am Rande. Sie ist es nicht, die die Schrecken der übersinnlichen Natur hervorruft. Auch sind die "Riesenhalme" zu kleinen Büscheln geschrumpft und drohen nicht, das Kind bei seinem Moorgang durchs Herz zu stechen. Trotz allem geht von den Fotos eine Unheimlichkeit aus, der es lohnt, nachzuspüren. Auf die starre Tonlosigkeit habe ich eben bereits verwiesen. Diese hängt unter anderem mit dem Aufnahmezeitpunkt der Bilder zusammen, der gut zwei Wochen zurückliegt. Wir befinden uns also in der winterlichen Jahreszeit, die sich auf den Halmen und Gestümpfen in Form von wie gefroren wirkendem Raureif niedergelegt hat. Diese weißen Spuren der Kälte sind nur auf die "Heidelandschaft" im Vordergrund beschränkt. Der Wald, der sich im Hintergrund auftut, scheint irgendwie einen Schritt aus dem Winter herausgeschritten zu sein und wird teilweise von der Sonne beschienen. Fast ist es so, als ob eine Grenze durch die Bäume geschaffen wird, um die Dramatik des Vordergrundes zu steigern. Ein weiteres Element, das mit der starren Tonlosigkeit der Atmosphäre nicht in Übereinstimmung gebracht werden kann, ist die Bewegtheit der Szene. Das grasige erstarrte Heidegras ist dynamisch bewegt und von Furchen durchzogen, was so wirkt, als ob wir in die Wellen eines aufgewühlten Meeres schauten. Und ja, alles ist Schauen bei diesen Fotos: Der Wald, wir - wir blicken auf das zentrale Geschehen der Gestümpfe, eigentlich des Gestumpfes. Der erste Stumpf, der dem Betrachter am nächsten ist, liegt waagerecht auf dem Gras und grenzt uns aus einem heiligen Raum aus , in dem ein zweites Gestumpf um sein Leben ringt. Zwei Äste sind schräg zur Seite erhoben, während ein kraftvoller Sog ihn in den Untergrund hinabziehen möchte. Interessant ist nun, dass die Sogwirkung von dem Licht ausgeht, das den linken Bildbereich bescheint. Wir werden unmittelbar Zeuge des Kampfes eines Lichtwesens mit einem der Dunkelheit, das nur noch hilflos wie ein Ertrinkender seine Arme in die Luft reckt, um im nächsten Moment ein Grab unter den Wellen zu finden. Das heranrückende Licht bedroht unseren Stumpf in seiner Existenz und das schauende Auge ist ebenfalls hilflos seinem Schauen ausgeliefert und vielleicht gar auch in seiner Existenz bedroht. 
Gewalt - eine tonlose starre Gewalt - geht von dem Licht aus, dem das Gestumpf nichts entgegenzusetzen vermag. 
Die gesamte Szene ist wie aus dem Irdischen herausgehoben, abgesteckt und heilig und zeigt auf einer offenen Bühne Leben und Sterben. Dass hier nun die Vorzeichen vertauscht sind und das Element der Dunkelheit als Leidendes herausgestellt ist, während das Licht erbarmungslos waltet, ist in unbestimmter Weise poetisch:
Oh schaurig ist's, in die Sonne zu gehen,
    

Ein Ball in Lank Latum

(16.01.2019)

Ein Zeug ohne Spiel

Das, was auf den Fotos zu sehen ist, ist schnell beschrieben. ein orangener von dunklen Linien basketballgleich überzogener kleiner Plastikball, der an einer Seite eingedellt ist; Schnee; aus dem Schnee herausschauende Kräuter, abgefallene Blätter und abgestorbene Stängel. Aufgenommen habe ich die Fotos am Rande eines Auwaldgebietes in Lank Latum im Dezember letzten Jahres an einem Tage, an dem das erste und bis jetzt letzte Mal Schnee fiel. So weit so gut. Schnee, Gräser, Blätter und Stängel sind am Rande eines Auwaldgebietes erst einmal nichts Außergewöhnliches. Die Außergewöhnlichkeit stellt der eingedellte kleine Ball dar. Nun ja, wenn man die Frage nach Ursache und Wirkung stellt, ist die Szene der Fotos schnell erklärt. Entweder hat ein unachtsames Kind beim Spaziergang mit seinen Eltern den Ball verloren, oder einem Hund ist er aus dem Maul gefallen, ohne dass dies seinem Herrchen oder Frauchen aufgefallen wäre. Dann, ja dann, ist die zu sehende Szene mehr als gewöhnlich. Eine Spur des Außergewöhnlichen gewinnt man, wenn eine andere Option ins Auge gefasst wird. Was, wenn der Ball selbst aus einem Kinderzimmer oder Hundekorb das Weite gesucht hat - müde des ständig an die Wand Geworfenwerdens oder des ständig zwischen den Zähnen Zerquetschtwerdens - und sich auf den Weg rollte, andere Seinshorizonte aufzuspüren. Tja, er kam bis nach Lank Latum, als ihn der hereinbrechende Schneefall überraschte und seinen Freiheitswillen erstarren ließ. Ein heimatlos nun auf dem Weg Gestrandeter, dem schon die Delle jegliche Fortführung seines Rollens genommen hat. (Gehen wir ruhig davon aus, dass die Delle erst mit dem Beginn des Schneefalls entstanden ist.) Doch belassen wir lieber die Suche nach möglichen Ursachen des Vorhandenseins des Balles im Schnee zwischen Blättern, Kräutern und Stängeln und wenden uns dem hic und nunc der Gegenwart der Fotos zu, was bei Fotos ja eher ein Aktualisieren des Vergangenen darstellt. Und ja ich entkomme der Signifikanzfalle nicht und überziehe das Gesehene mit Bedeutungen und Gefühlen. Traurig und verlassen wirkt der Bildausschnitt auf mich. Und im Besonderen wirkt der Ball verloren und verlassen. Im Produktionsprozess entfremdet, eine kurze Zeit mit Emotionen, Gefühlen und Bindungen gefüllt, um dann wiederum als entfremdetes Objekt im Schnee zu enden. Ein Schicksal eines zirkulären Lebens, das heutzutage sicherlich viele Industrieprodukte erleiden müssen. Betrachtet man die Delle des Balles etwas genauer, könnte man durchaus davon ausgehen, dass sie eine Öffnung zu seinem Inneren darstellt. Und aus seinem Inneren quellt der Schnee, still und unablässig, bis von unserem Ball nur noch eine leere Hülle übriggeblieben sein wird. Nein, es schneite an diesem Tage gar nicht, der Schnee ist die materialisierte Form eines Verwundetseins, das sich in Lank Latum ausgebreitet hat.
Mit Fug und Recht kann behauptet werden, dass die Fotos moderne Stillleben in bester barocker Tradition sind. Zeigen diese in all ihrer Üppigkeit das Vergehen und das Besinnen auf die Endlichkeit alles Seienden, so ist das Üppige in unserem Falle ein kleiner geschrumpfter eingedellter Ball, der Leben und Tod in sich vereinigt. 
Das - um es drastisch auszudrücken - Auskotzen des Schnees eines Zeugs ohne Spiel jedoch stellt sicherlich eine Weiterentwicklung in der Geschichte des Stilllebens dar. 

Eine Eberesche in der Bröcke

(05.01.2019)


Die Magie des Winters

Landläufig herrscht ja die Meinung, dass in den Wintermonaten das Leben trist und wie tot dem kommenden Frühling harrt. So ganz falsch ist diese Meinung nicht, jedoch ist das  wieder aufwachende Leben als Zeichen und Spur überall anwesend. Im Falle der Bäume und Sträucher muss man sich ihnen nur offenen Auges nähern, um festzustellen, dass neue Blätter und Blüten schon in ihren Knospen angelegt sind und nur auf längere und wärmere Tage warten, um in rasanter Geschwindigkeit sich der Sonne entgegen zu strecken. So auch im Falle der Eberesche - Sorbus aucuparia -, deren Knospen man auf den oberen Fotos sehen kann. Vor der Kälte schützen sie sich einerseits durch Schuppen, andererseits durch eine in den meisten Fällen recht dichte und weiche Behaarung. Wenn man sich bewusst macht, dass in ihnen schon vollständig Blätter und Blüten angelegt sind, gefriert einem in den Wintertagen der Atem. Übrigens zeigt das untere rechte Foto eine Blattknospe, die anderen stellen Blütenknospen dar, die auch insgesamt imposanter wirken. 
Zu Weihnachten herrscht in unseren Gefilden der Brauch, sich einen Weihnachtsbaum in das Wohnzimmer als Zeichen des neu beginnenden Lebens zu stellen. Ich mag diesen Brauch, jedoch sind Fichte und Tanne ein eher missratenes Symbol, sind sie doch das gesamte Jahr über grün und als Hoffnungssymbol des wieder erwachenden Lebens nur bedingt tauglich. Als Symbolkaskade taugt hingegen jeder Laubbaum oder .-strauch, der wie abgestorben in der Landschaft steht, aber in seinen Knospen das Wunder der Geburt anzeigt. Tja, aber eine kahle Eberesche im Wohnzimmer, unter der man die Geschenke auspackt? Ich gebe zu, dass das der familiären Harmonie nicht gerade zuträglich ist. 
Die Eberesche ist nun ein ganz besonderer Baum, der in die magischen und mythischen Gründe der Menschheit hinabreicht. Eine Ahnung davon gibt schon das untere linke Foto. Wenn man es sich genau betrachtet, erkennt man eine wie in Eis gefrorene Form eines Vogels: ein kleiner Kopf im Profil mit einem Auge und einem Schnabel; dann ein Flügel. Er sitzt in einer Art Kauerstellung, so als erwartete er die wärmeren Stunden, um seinen Flug zu starten. Wenn das nun nicht ein in die Knospe der Eberesche eingeschriebenes Symbol ist, dann weiß ich es auch nicht mehr. Vieles an der Eberesche deutet darauf hin, dass er der heilige Baum der Zwerge sein muss. Der Miniaturvogel in der Knospe ist ein erstes Anzeichen. Dann sind die Früchte des Baumes kleine rot-orange Äpfel und ich stelle mir vor, wie ganze Zwergenkolonien auf ihre Äste klettern, um die Früchte zu ernten. Dass man die Ebereschenfrüchte Vogelbeeren nennt, hängt bestimmt nicht damit zusammen, dass diese gerne von Vögeln gegessen werden.  Nein, es ist das magische Flugpotential, dass sich in den Knospen von Sorbus aucuparia eingeschrieben hat. 
Und heilig ist die Eberesche: In Norwegen nennt man den Baum Thorsbjörg, was man mit Thors Begegnung übersetzen kann. In der Edda wird berichtet, dass Thor bei der Jagd in einen Fluss fiel, doch dank eines Ebereschenastes, den er zu fassen bekam, konnte er sich vor dem sicheren Ertrinkungstod retten. So ist Sorbus aucuparia dem Donnergott Thor geweiht und gilt gemeinhin als Baum des Schutzes vor bösen Kräften. Und auch die keltischen Druiden stellten ihre Zauberstäbe aus ihrem Holz her.
Die bösen Kräfte sind in unserer heutigen Zeit die Krankheiten, die mithilfe der Eberesche bekämpft werden können. Viele Menschen meinen, die Vogelbeere sei giftig, was jedoch nicht stimmt. Roh genossen ist der übermäßige Genuss der rohen Früchte unverträglich, was an der Parasorbinsäure liegt, die sie enthalten. Durch Minustemperaturen oder durch das Abkochen der Früchte wandelt sich die Parasorbinsäure zu Sorbinsäure, die völlig unbedenklich ist. Neben den Früchten, die sehr viel Vitamin C enthalten, sind auch die Blätter und Blüten getrocknet als Tees einsetzbar: Husten, Bronchitis, Magenprobleme, Rheuma, Gicht -  nichts schreckt die Eberesche. Die Früchte sollen sogar für Sänger gut sein, da sie dabei helfen Schleim von den Stimmbändern zu lösen. 
Tja, Gesang, Vögel, Zwerge, Thor, Winter, Knospen - Kinder, es gibt Hoffnung für das Jahr 2019! 
    

An einem Bach im Witte Venn

(16.12.2018)


Koitus interruptus

So langsam bekomme ich Angst, dass die Blog-Seite über Orte bald nur noch Insekten beheimaten wird. Nach der gemeinen Skorpionsfliege und dem Rosen-Flechtenbärchen präsentiert sich nun die gebänderte Prachtlibelle - Calopteryx splendens - unter "Orte", und ich gebe zu, diesen Begriff etwas über zu strapezieren. Doch seis drum. Begriffe sind formbares Wachs unter den Händen dessen, der sie bearbeitet.  
Die Fotos müssen von links unten beginnend im Uhrzeigersinn "gelesen" werden. Ja, "gelesen", stellen sie doch sozusagen das Narrativ eines Kopulierungsscheiterns dar. Dieses Scheitern ist aber weder dem Männchen, noch dem Weibchen anzulasten. Vielmehr bin ich es, der den Koitus interruptus verursacht habe, und noch immer plagen mich Schuldgefühle und der anklagende Blick des Männchens auf dem oberen linken Foto verfolgt mich in meine schlaflosen Nächte hinein. Doch beginnen wir der Reihe nach. Gefunden habe ich das Paar im Uferbereich eines kleinen Baches am Rande des Witte Venns, das sich im Münsterland an der Grenze zu den Niederlanden befindet. An einer Stelle staut sich das Wasser etwas und bewegt sich nur gemächlich weiter. Das Ufer ist von hohen Gräsern und Schilfarten bewachsen und auch im Wasser stehen einige Pflanzen, die das Weibchen der gebänderten Prachtlibelle zur Eiablage braucht. Also ideale Bedingungen, und so schwirrten und glänzten etliche Libellenfügel im Sonnenlicht um mich herum. Als ich das kopulierende Paar im Gras fand, blieb ich fasziniert stehen. Das Männchen hatte seinen Körper zu einem "Rad" verrenkt, seine Genitalien in den Hals des Weibchens gerammt und trieb es hemmungslos. Meine Güte ja - das vaginale Pendant befindet sich bei der Libelle am Hals. Tja, und nun komme ich ins Spiel. Auf der Suche nach einer besseren Position für meine Fotos berührte ich ungeschickt und tölpelhaft das Gras, auf dem sich unser Paar befindet. Und ja, das Männchen fiel herunter und konnte sich so gerade mit zwei seiner sechs Beinchen an einem sich in der Flugbahn befindlichen Grashalm festkrallen. Oh weh, seht ihr seinen etwas verängstigten und anklagenden Blick links oben? Wer einmal so angeschaut wurde, dem hilft kein Flehen um Vergebung. Der ewige gebänderte Prachtlibellenfluch wird auf mir lasten und mein Begleiter der langen kommenden Winternächte sein. Auch wenn die Geschichte weiterging. Männchen und Weibchen erholten sich und saßen bald wieder - nun aber räumlich getrennt - auf anderen Grashalmen. Mensch, fast das perfekte Märchenende. Ist die Erinnerung an vergangene Lust noch in ihren Körpern präsent? Oder ist etwa der Blick des Weibchens rechts unten auch als fluchbeladen zu deuten?
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Nein, sie sind gestorben, auch wenn ich in ihrer Todesstunde nicht zugegen war.
In gewissem Sinne stellen die Fotos ein doppeltes Memento Mori dar. Aber auch ein Moment der Fremdheit. Auf ihnen kann das exemplifiziert werden, was Roland Barthes als "studium" und "punctum" umschreibt. Im "studium" nehme ich das Foto in meiner kulturellen Eingebundenheit wahr. Ich interpretiere das kopulierende Paar mit den Referenzen meines angeeigneten biologischen Wissens. Doch das "punctum" ist ein Element des Fotos selbst, das verwundet, sticht und meine kulturelle Eingebundenheit potentiell in Stücke reißt - für einen Moment. Hier ist in besonderem Maße das "punctum" der Blick des Männchens von Calopteryx splendens. Es drückt das aus, was meinem Blick verborgen bleiben muss, aber Risse in mich hineinfräst. (So langsam versteht man meine schlaflosen Winternächte.) 
Ein anderes "punctum" ist die Anwesenheit eines Abwesenden und längst Vergangenen. Nach einem zweijährigem Larvenstadium können Weibchen maximal 50 Tage, Männchen gute zwei Wochen länger als Libelle leben, Die Libellen auf den Fotos sind also längst vergangen, habe ich sie doch im Juni diesen Jahres aufgenommen. Diese Dimension des Zeitlichen ist ja geradezu punctum-gesättigt. 
Das zweite Memento Mori-Element ist eben die Kluft, die sich zwischen Aufnahmedatum und dem Schreiben dieser Zeilen auftut. Heute schneite es das erste Mal, während der Frühsommer mit Lust und einem Koitus interruptus lockt.     
           

Auf den Blüten des Wasserdostes

(10.12.2018)


Das Rosen-Flechtenbärchen

Wer kennt sie nicht, die Nächte, in denen man wach liegt und das Sandmännchen verflucht, das einen in der Abendstunde vergessen hat. Doch Schlafprobleme scheint es nicht nur bei uns Menschen zu geben. Das Rosen-Flechtenbärchen - Miltochrista miniata - ist ein Nachtfalter, und das oben zu sehende Foto habe ich am 1. August letzten Jahres um 11:10 Uhr morgens am Rande eines Waldes aufgenommen. Am Datum wird ersichtlich, dass die Nacht schon seit einigen Stunden vergangen war, doch ja, in den Schlaf hat unser hübsches Insekt nicht gefunden. Wahrscheinlich quälte es sich auf einem Eichenblatt von einem Flügel auf den anderen wälzend, ärgerte sich über die zu lauten Buchfinken und dachte an all die Dinge, die in der folgenden Nacht zu erledigen seien: Futtersuche, Partner zur Fortpflanzung finden, unbeantwortete E-Mails - ja, dies kann einem schon mal den Schlaf rauben. Den einfachen Griff zur Schlaftablettenpackung hat Miltochrista miniata auch nicht bewerkstelligen können - was mein Glück gewesen ist, denn es wäre schade gewesen, eine solch schöne Erscheinung nicht erblicken zu können. Vielleicht war unser Rosen-Flechtenbärchen auch gar nicht so leidgeplagt, wie es die oberen Zeilen nahelegen, und hat den Tag zur Nacht gemacht, an dem der Nachtfalter sich dem Slogan "Sex and Drugs and Rock'n'Roll" hingeben wollte. Nun, davon - nach den Fotos zu urteilen - war er noch etwas entfernt. Den Auftakt eines entfesselten Tages machen hier erst einmal die Blüten des Wasserdostes; und so weit ich weiß, sind sie nicht so richtig drogenmäßig psychoaktiv. Doch was weiß ich schon vom Stoffwechsel des Rosen-Flechtenbärchens. Wahrscheinlich flatterte er schon kurz nach der Aufnahme - torkelnd in ein Licht- und Bildermeer getaucht - in einen magisch durchwirkten Tag hinein.
Die ernüchternden Fakten der Wissenschaft folgen sogleich: Trotzdem Miltochrista miniata ein nachtaktives Insekt ist, ist es nicht ganz ungewöhnlich, einzelne Exemplare der Art auch tagsüber auf Blütenpflanzen anzutreffen. Nunja, wenn ich es mir recht überlege, ist das kein Widerspruch zu dem, was ich weiter oben geschrieben habe. Nur sind eben mehr Artgenossen unseres Falters von Schlafstörungen oder von ekstatischer Lebensgier betroffen. 
Als Tageserscheinung auf dem Dancefloor würde es auf jeden Fall im Mittelpunkt der schmachtenden Insektenblicke, die sich nicht satt sehen können, stehen. Das feine Orange der Flügel wird durch ein kräftigeres Rot des Randes weiter unterstrichen und hervorgehoben. Und auf dem Orange hat im hinteren Flügelbereich ein Zeremonienmeister des guten Geschmacks eine schwarze wellenförmige Linie gezeichnet, unter der kleine Punkte derselben Farbe filigran senkrecht zu den unteren Scheitelpunkten der Welle aufgetragen wurden. Auch den oberen Flügelbereich zieren Linien, die aber eher etwas Zickzackhaftes an sich haben und die Idee des Symmetrischen des unteren Bereiches nicht weiter fortführen wollen. Betrachtet man nun den Übergang der Flügel zum Kopf, wird man feststellen, dass sich dort so etwas wie eine rundliche Wölbung befindet. Man könnte fast den Eindruck bekommen, es mit einem Kragen zu tun zu haben. Es muss so sein: Die Flügel von Miltochrista miniata sind in Wirklichkeit ein Umhang, in den die Tage schlaflos hineinwehen und von einem Ekzess zum nächsten tragen.
Wenn man allerdings erfährt, zu welcher Verwandtschaft unser Rosen-Flechtenbärchen gehört, muss man erst einmal betreten für einige Sekunden innehalten: Er gehört der Familie der Bärenspinner an. Bärenspinner - Assoziationen eines klobigen, jeder Grazie verlustig gegangenen Wesens, stellen sich ein. Den Namen erhielt sie Dank ihrer Raupen, die stark behaart sind, so dass der erste Mensch, der sie fand, ausrief: Boah ey, wie ein Bär. Manche Arten verpuppen sich auch in einem Gespinst, womit wir nun die ganze Ungelenkheit des Familiennamens geklärt hätten. 
Das schert das Rosen-Flechtenbärchen nicht. Es transzendiert vielmehr den Gedanken an ein Gen-determiniertes Leben und brüllt in seinem elegantem Orange: That's Rock'n'Roll!  
P.S.
Wie man sieht, habe ich den Gedanken, dass Miltochrista miniata an Schlafstörungen leidet, beim Fortgang des Schreibens aufgegeben.    

Auf einer Johanniskrautpflanze

(04.12.2018; Aufnahme vom 10. Juni 2018)


Kill him fucking kill him, I don't care if it hurts

Auch auf potentiell Depressionen heilenenden Johanniskräutern spielen sich mitunter Dramen ab, bei denen man am liebsten aus Angst die Augen schließen wollte. Die gemeine Skorpionsfliege - Panorpa communis - saugt und stochert an einem nicht mehr zu identifizierenden fliegenähnlichen Opfer. Etwas anders psychisch gestrickte Betrachter der Fotos können in die Liedzeile des Titels einstimmen, die aus dem Lied "Prayer to God" von Shellac stammt. Solch einen Hass jedoch hat das fleischliche Irgendwas am Stengel des Johanniskrautes nicht verdient. Es macht den Anschein, als ob es schon länger tot sei, was zu der Lebensweise und zu der Nahrungssuche der gemeinen Skorpionsfliege ganz gut passt. Sie ernährt sich von geschwächten Insekten, die sie jagt. Aber nicht nur Jägerin ist sie, nein, auch noch Sammlerin - und zwar von toten Insekten. Und "Sammeln" umschreibt auf euphemistische Weise das, was sie tut: Sie stiehlt ihre Beute anderen Insekten. Unter anderem plündert sie Netze von Webspinnen, die aus noch nicht geklärten Gründen ihr Netz bei einem Angriff nicht verteidigen. Ja, die Skorpionsfliege ist schon eine Respekt einflößende Erscheinung. So könnte ich mir vorstellen, dass das auf den Fotos zu sehende Opfer aus einem solchen Netz stammt - etwas eingewickelt verpuppt wirkt es ja schon. In der Biologie nennt man das Stehlen von Beutetieren Kleptoparasitismus. Mein Gott - ich liebe Fachsprache. Also ist Panorpa communis ein Kleptoparasit: Auf uns Menschen bezogen ein Kleptomane, den man aber durch keine therapeutischen Sitzungen heilen wird.
Warum auch? Wer so schön ist, kann sich einiges leisten. Der Hinterleib unseres Insektes besteht aus gelben und schwarzen Segmenten, die schon wespengleich Gefahr signalisieren; das letzte Hinterleibsegment ist leicht in die Höhe gehoben und ist rot gefärbt. In unserem Falle ist dies die Legeröhre für die Eier, die in der Erde vergraben werden. Wir haben es nämlich mit einem Weibchen von Panorpa communis zu tun. Bei männlichen Exemplaren ist der hintere rötliche Teil, der ihr Sexualorgan ist, recht stark angeschwollen und erinnert tatsächlich etwas an den Stachel eines Skorpions. Das spektakulärste Körperteil ist allerdings der recht kleine, mit herausquellenden Augen versehene Kopf, an dem sich ein durchaus kräftiger und langer Schnabel befindet, dessen Ende zwei kleine Fortsätze zieren, die glatt als Zange durchgehen könnten. Ich bin sicher, dass mit diesem Schnabel die gemeine Skorpionsfliege auch keine Schwierigkeiten hätte, ganze Schweine auszuweiden.
Nimmt man nun noch die schön gezeichneten Flügel hinzu, kann man nicht anders, als sich ihres Anblickes in Ehrfurcht zu erfreuen. 
Sie kann von Glück sagen, dass sie so klein ist und noch nicht einmal ein Johanniskrautblatt ausfüllen kann. Hätte sie die Größe eines Löwen - dann gute Nacht Münsterland, in dem ich sie gefunden habe. Man stelle sich nur vor, wie sie Jagd auf geschwächte Menschen macht. Aber man stelle sich auch vor, wie mit Touristen vollgestopfte Jeeps das norddeutsche Tiefland auf der Suche nach der gemeinen Skorpionsfliege durchkreuzen und Großwildjäger sich ihren Kopf an die Wohnzimmerwände hämmern. Ja, das Löwenpotential hat sie allemal - doch zum Glück ist sie so klein, dass sie wohl nicht ins Visier unserer modernen Welt gerät. Allerdings hat Panorpa communis durchaus schon für Schlagzeilen gesorgt - ist sie doch in diesem Jahr zum Insekt des Jahres gekürt worden. Die SHZ im Internet titelte: "Insekt des Jahres 2018 lockt Weibchen mit vibrierendem Sex-Stachel an". (https://www.shz.de/18512851)
Ja, habe ich in meinem Beitrag eher die "Crime-Seite" hervorgehoben, so setzt die Zeitung alles auf die Karte "Sex". Wenn ich einmal ein kopulierendes Paar finden sollte, dann werde ich bestimmt von dem (durchaus spannenden) Sexualleben der gemeinen Skorpionsfliege berichten.    

In der Kathedrale von Lille

(26.11.2018)

Pietà

Ein wichtiges Element fehlt auf den Fotos - und zwar die Mutter Gottes-, verweist der Titel doch auf die Mater dolorosa, die den vom Kreuz genommenen Leib Jesus' in den Händen hält. Auf der runden, aus Brettern zusammengefügten Holzform liegt der verstümmelte, verkrümmte und noch mit der letzten sich zeigenden Lebenskraft sich aufbäumende Körper eines Menschen. Seine Form, seine Körperhaltung und sein sich nach rechts oben windender Oberkörper verweisen auf die berühmte Pietà Michelangelos im Petersdom. Doch den Weg von Rom nach Lille und aus der Renaissance ins 21. Jahrhundert hat den Körper Jesus' in die absolute Schutzlosigkeit hineingeworfen. Fast schon nihilistisch ist dieser Mensch gezeichnet. Keine mitleidende  Mutterfigur nimmt sich seiner an, nein - nackt und ungeborgen und an den Beinen verstümmelt ruft er nur noch Mitleid im voyeuristischen Blick des Kathedralenbesuchers von Lille hervor. Ein Mitleid, das keine Nähe mehr aufbaut, denn der Körper liegt in einer Seitenkapelle, die durch ein (wenn auch nicht hohes) Gitter verschlossen bleibt. Ja, und im Gegensatz zu den Pietàs der Kunstgeschichte, scheint in dem Körper von Lille noch ein letzter Funke Leben zu sein, was das schon weiter oben angedeutete Anheben des Oberkörpers nahelegt. Wir sehen sozusagen einen sterbenden Menschen und können die Kluft zwischen ihm und uns nicht überbrücken. Die letzte und einzige Möglichkeit, Schutz zu finden, scheint hier - in dem Kathedralenraum - der Glaube an ein göttliches Oben zu sein. Ich weiß nicht so recht, aber dieser Glauben hat in der Konstellation der Skulptur mit dem Raum fast schon einen zynischen Anstrich. Wenden wir uns nun dem zu, auf dem der Körper ruht. Das Holzrund macht den Anschein, auf dem Mosaikgrund zu treiben und konkrete Bilder aus den vergangenen Jahren stellen sich ein. Ja, man könnte das Holzrund als Floß deuten, das den sterbenden Menschen trägt. Dann wäre der mutterlos dahintreibende Körper ein Flüchtling, der versucht das Mittelmeer auf dem Weg nach Europa zu überqueren. Das Grauen der tausendfachen Tode konnte man ja schließlich miterleben - voyeuristisch auf Bildern in den Zeitungen und im Fernsehen. Gut- eine konkrete Deutung, kehren wir nun jedoch wieder ins Reich des diffus Abstrakten zurück. Um dies zu erreichen, müssen wir einen kleinen konkreten Umweg über den Künstler und das Material der Skulptur nehmen. Geschaffen wurde sie 2017 von Werther Gasperini. Ist die Pietà in Rom aus edlem Carrara-Marmor geschaffen, hat sich in Lille auch eine Materialverschiebung ereignet. Gasperinis Pietà besteht aus Wachs. Diese Verschiebung hin zum Organischen lässt den Menschen auf dem Holz noch verletzlicher erscheinen. Kein Block der Ewigkeit, sondern dem Vergehen geweiht. Dem Wachs nun ist eine Besonderheit eingeschrieben, die verschiedene Deutungen zulässt. Es ist Wachs, den der Künstler in Kirchen Brüssels meist aus von Gläubigen angezündeten Kerzen gesammelt hat. In der Materialität des Werkes sind somit all die Hoffnungen, Gebete und Danksagungen von Menschen präsent. Sie materialisieren sich in dem amputiert sich dem Tod entgegenstemmenden Körper. Eine Deutung wäre nun, dass der verloren gegangene mütterliche Schutz, in den Wachs übergangen ist und den Körper trägt. Die ganze Menschheit hofft und leidet mit der Figur mit, was irgendwie in seinem solidarischen Impetus als Schutz verstanden werden könnte.
Doch eine zweite Lesart lässt uns einsam auf dem Holzfloß zurück. Alle Gebete, Hoffnungen und Danksagungen münden in der Kreatur, die hoffnungs- und schutzlos in Lille über den Kathedralenboden treibt.                

Eine Straßensperre in der Bröcke

(17.11.2018)


Auf zum Schlachtfest

Auf den Wegen, die zu meinen Pilzsammelgebieten führen, werde ich manchmal mit Dingen konfrontiert, die einfach skurril genannt werden müssen. Auf den Fotos ist eine Straßensperre mit dem Hinweis zu sehen, dass Anwohner bis zur Baustelle weiterfahren dürfen. Etwas redundant wurde dann auch noch ein Sackgassenschild aufgebaut und auf der rechten Seite erkennt man eine Bushaltestelle, an der ich jedoch noch nie einen Menschen warten sah. Lost in nowhere scheint sie jedoch die Hoffnung auf Busse und Menschen nicht aufgegeben zu haben. Und nun kommen wir zu dem Punkt, der in seiner Einfachheit vor Komplexität zu bersten droht. Neben dem Hinweis auf das Landgut Ritter (er ist verdeckt, beim Klicken auf die Bilder sieht man es jedoch) ist ein Plakat an der Straßensperre befestigt, das aus drei Worten und einem Richtungspfeil besteht: Gänse Enten gesclachtet. Ja, irgendetwas fehlt - das h aus dem Wort "geschlachtet. Nun könnte man erst einmal denken, dass der Schreiber oder die Schreiberin einfach über mangelnde Fähigkeiten der deutschen Rechtschreibung verfügt. Allerdings mutet es schon etwas komisch an, ausgerechnet das "h" in einem "sch" wegzulassen. Aber Gott, es gibt nichts, was es nicht gibt. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass die schreibende Person mit ihren Gedanken ganz woanders war, als sie die Worte auf die Pappe schrieb. Während sie vielleicht schon zwischen den Bildern des kommenden Schlachtfestes dahinwandelte, bemerkte sie nicht, dass sie das "h" noch nicht geschrieben hatte, als sie sich daranmachte, dass "l" auf die Pappe zu bringen. Hinterher war es ihr die Mühe nicht mehr wert, den Fehler zu korrigieren.
Ich glaube jedoch, dass es sich ganz anders verhält und der Autor des Pappschildes weder orthographische Schwächen hat, noch abgelenkt gewesen war. Nein, hier ist zynisches Marketingkalkül am Werk. So wie den Gänsen und Enten die Kehle durchgeschnitten wird, so wurde bei dem Partizip das "h" geschlachtet. Somit haben wir es mit einem wahrlich kreativen Schlächterer zu tun, der seine Kunden mit Amputierungen lockt. Doch nicht nur mit ihnen: er hat die drei Worte in einen Sog der Kreativität hineingezogen. Das Partizip "geschlachtet" kann nämlich auf zwei Arten gelesen werden. Einmal: Gänse und Enten sind geschlachtet worden. Hierbei zählt also nur die Aufforderung an die vorbeifahrenden Autofahrer, doch eins dieser leckeren Tiere zu kaufen. Unser Pappschildschreiber hat aber noch Düsteres und in die Abgründe des Menschlichen Hineinführendes im Sinn, denn "geschlachtet" kann auch in dem Sinne verstanden werden, dass Gänse und Enten geschlachtet werden. Puhh, erst einmal sacken lassen. Hier zielt er auf die westmünsterländischen Perversen und  Psychopathen ab, die ein blutiges Gemetzel einfach geil finden. Ob nun ersterer oder letzterer Personenkreis häufiger bei dem Ort des Schlachtens haltmacht? Wir werden es wohl nicht mehr in Erfahrung bringen, und auch die wahre Bedeutungsessenz bleibt uns verschlossen. So können wir zum Schluss gemeinsam mit dem Sackgassenschild philosophisch werden. Versuche, Sinn zu finden, enden eben dort: in der Sackgasse.   

Ein Denkmal für das Wasser in Albuquerque

(08.11.2018)


Eine Anklage

Würde man den Ort, der auf den Fotos zu sehen ist, angefüllt mit Wasser und womöglich mit einigen in ihm schwimmenden Goldfischen antreffen, würde man sich etwas peinlich berührt von solchem Kitsch abwenden und hoffen, dass man die Person, die sich solches ausdachte, nicht kennt. Jedoch verhält es sich anders, was eben dem Fehlen des Wassers geschuldet ist. Was wir vor uns haben, ist erst einmal ein nicht abgeschlossenes Quadrat, dessen Wände aus bläulichen Kacheln bestehen. Zwischen ihnen sind orange Kacheln eingefügt, auf denen das Wort "Wasser" in verschiedenen Sprachen geschrieben ist. Der Boden besteht im hinteren Teil aus Zement und einem größeren Abflussgitter. Im vorderen Teil, den man sieht, wenn man auf die Fotos klickt, ist eine Art Rindenmulch aufgetragen. In den Wänden sind runde Öffnungen eingefügt worden, durch die das Wasser einfließen kann. Unter den Rundungen ist die Farbe der Kacheln bis zum Boden reichend weiß-grau, so als ob sich tatsächlich lange Ströme in den Raum ergossen und das Blau weggewischt hätten. Tja, was ist es nun, was wir vor uns haben? War dieser Raum wirklich ein Ort, an dem Wasser floss und vielleicht in unregelmäßigen Abständen noch tut? Oder ist es eine Skulptur, die gerade auf die Abwesenheit des Wassers aufmerksam machen will? Zumindest gehe ich davon aus, dass hier schon lange kein Wasser mehr floss. Pflanzen bewachsen den Boden, auf den Menschen im Vorbeigehen ihren Müll geworfen und auch einen grünen Pfeil und einen roten Strich gemalt haben. Auch befindet sich der Ort etwas abseits und versteckt auf dem Campus der Universität von Albuquerque, und es war eher zufällig, dass ich auf ihn traf.
Und doch schleudert er jedem, der an ihm vorbeikommt, eine Anklage entgegen, die in unzähligen Sprachen der Erde formuliert ist: pani, imiq, eau, water, wasser. Ja, das unabgeschlossene Wasserquadrat macht uns in seiner Leere darauf aufmerksam, wie essentiell Wasser ist. Auf der einen Seite hat es für die Kultur des Südwestens der USA eine fundamentale Bedeutung.  Die Hochkulturen von Mesa Verde, Aztec Ruins und Chaco Canyon gingen aufgrund von langjähriger Dürre unter, und ihre Bewohner zogen Richtung Süden in die Gegend des Rio Grande. Doch Wasser ist auch längst schon politisch geworden, was im Südwesten u.a. in den gezogenen Grenzlinien zwischen den Reservaten der Hopi und der Navajo deutlich wird. Diese Grenze schneidet die Hopi von wichtigen Wasserreservoirs ab, aber politisch scheinen sie keine große Lobby zu haben, dieses zu ändern.
Und auch der Film "The Milagro Beanfield War" handelt von den Kämpfen um das Wasser in Neu Mexiko. Ein Ferienressort hat sich in ihm die ganzen Wasserrechte gesichert, während die Bauern der Umgebung ihre Felder nicht mehr bewässern können. Ein Farmer nun zapft die Wasserpipelines des Ressorts an, damit seine Bohnen nicht eingehen. Ein zäher Kampf zwischen Großunternehmen und kleinem Mann wird geführt, an dessen Ende der Bauer mit seinen Mitstreitern über sein Bohnenfeld tanzt. Ja, zumindest im Film ein Happy End.
Wasser ist zu einem kapitalistischen Wert geworden, zumindest in vielen Teilen der Welt.
Und auch in Deutschland war 2018 ein regelrechtes Dürrejahr, das uns vielleicht eine Ahnung geben kann, von dem, was kommen kann. 
Vielleicht ist das skulpturale Objekt der Photos auch eine Einladung zum Innehalten, zum Hineinschauen in einen Raum des Ruins. 
Schließlich ist Wasser das elementarste Element unseres Lebens auf der Erde. 
Noch heute tanzen, singen und trommeln die Indianerstämme des Südwestens der USA in festgelegten Zeiten des Jahres für die Regengeister um Wasser. Diese Rituale müssen mit reinem Herzen begangen werden, sonst würden sie folgenlos bleiben.
 Puh, wenn das reine Herz wirklich die Voraussetzung zur Abwendung der Trockenheit ist, sehe ich etwas schwarz für die Zukunft.    
 
  

Auf einem Fensterbrett in Ahaus

(25.10.2018) 

Die Unbehaustheit der amerikanischen Kiefernwanze

Friedrich Nietzsche muss die amerikanische Kiefernwanze - Leptoglossus occidentalis -gekannt haben, anders kann ich mir folgendes Gedicht nicht erklären:
"Die Krähen schrein
und ziehen schwirren Flugs gen Stadt:
bald wird es schnein - 
wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat!

Nun stehst du starr,
schaust rückwärts, ach wie lange schon!
Was bist du Narr
vor Winters in die Welt entflohn?

Die Welt - ein Tor
zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
was du verlorst, macht nirgends halt.

Nun stehst du bleich,
zur Winter-Wanderschaft verflucht,
dem Rauche gleich,
der stets nach kältern Himmeln sucht.

[…]"
Ja, ich gehe davon aus, dass das "Du" des Gedichtes die amerikanische Kiefernwanze meint und direkt anspricht. Sie ist gleich in einem doppelten Sinne unbehaust "zur Winter-Wanderschaft verflucht". Die erste Unbehaustheit bezieht sich auf ihren eigentlichen Ursprungsort, der westlich der Rocky Mountains in den USA liegt., Von dort hat sie sich immer weiter Richtung Osten ausgebreitet, bis sie schließliich den Sprung über den großen Teich wagte. 1999 wurde sie das erste mal in Europa, 2006 dann in Deutschland nachgewiesen. Und 2018 hat sie es auf ein Ahauser Fensterbrett geschafft, das leider auf den Photos nicht zu sehen ist, sich aber unter dem Eichenblatt befindet, auf dem unsere Wanze sitzt. Eine Theorie besagt, dass sie durch die Einfuhr amerikanischer Weihnachtsbäume den Weg nach Europa fand, was ja schon ein gewisses poetisches Potential einschließt und in einer eleganten Wende auf die Verse Nietzsches bezogen werden kann. Leptoglossus occidentalis hat sich in einem verzweifelten Akt des Willens aus den Nadeln einer transzendental-christlich-heidnischen Tradition herausgerissen und fliegt nun dem Rauche gleich auf immer ferner gelegene Fensterbretter auf der Suche nach einem Heim - einer Behausung. Tatsächlich hängt diese Suche mit der Lebensweise der Wanze zusammen. An Nadeln von Bäumen legt das Weibchen Eier ab, aus denen im Frühjahr sogenannte Nymphen schlüpfen, die insgesamt 4-5 Metamorphosenstadien durchlaufen, bis ein Imago - das ausgereifte Tier - entstanden ist. Dies ist ungefähr im August geschehen, und nun setzt die ganze Dramatik des Daseins ein. Da die amerikanische Kiefernwanze sich erst im Frühjahr fortpflanzt, ist sie gezwungen, irgendwie den Winter heil zu überstehen. (Hier nun die zweite Unbehaustheit!) Dies kann sie nur an relativ geschützten und nicht zu kalten Orten. Zwar übersteht sie leichte Minusgrade, alles was jedoch darüber hinausgeht, hätte den unausweichlichen Kältetod zur Folge. Demnach sucht sie im Herbst ein Heim - Nester, Höhlen oder auch menschliche Behausungen, die zumindest in Deutschland über elektrische Heizungssysteme verfügen. Und nun kommen wir auf mein mit dem zuvor Genannten in einer engen Beziehung stehenden Zusammentreffen mit der amerikanischen Kiefernwanze zu sprechen.  Letzte Woche kam ich spätnachmittags nach Hause und ging ins Wohnzimmer, um die noch geschlossenen Rollladen hochzuziehen. Während dieses Vorgangs plumpste etwas von der Fensterscheibe auf das Eichenblatt, das auf dem Fensterbrett lag. Wie es sich herausstellte, war es die amerikanische Kiefernwanze. Klickt man auf eines der Fotos, wird man erkennen, welch einen Schrecken, ja, welche existentielle Angst, ich in dem Tier ausgelöst haben muss. Man erkennt kleine Tröpfchen, die Leptoglossus occidentalis aussondert, wenn es sich bedroht fühlt. Laut Quellen sollen sie nach Äpfeln riechen, was ich leider nicht überprüft habe, da ich erst zu spät davon erfuhr. Was machte aber nun die amerikanische Kiefernwanze an meinem Fenster? Auch Nahrungsbäume waren nicht in der Nähe (Die Wanze ernährt sich von den Samen der Zapfen diverser Nadelbäume, an denen sie saugt.) Ja, die Antwort liegt auf der Hand, und ich spreche sie in aller Ehrfurcht vor dem Lebenskampf dieses Insektes aus. Es war auf der Suche nach einem Heim, das sie in meiner Wohnung vermutete. Doch daraus wurde nichts. Nun stelle ich mir dieses kleine Tierchen vor, wie es durch die Lüfte fliegt und eine Heimat sucht. "Was bist du Narr/vor Winters in die Welt entflohn?" Ja, diese Frage möchte man dem Tierchen hinterherrufen, unbehaust, verlustig jeglicher Transzendenz, auf einem Eichenblatt, das keine Nahrung verspricht, im Angesicht kälter werdender Nächte. 
So bist du nun "zur Winter-Wanderschaft verflucht" und hoffen wir, dass es vielleicht eine Heimat jenseits der Transzendenz gibt.            

Auf dem Schöppinger Berg

(18.10.2018)

Er macht seine Engel zu Winden

Die Elemente, die auf den Fotos zu sehen sind, gehören zusammen und bilden sozusagen eine skulpturale Einheit. Das Windrad, von dem nur die Säule zu sehen ist, erkennt man schon von weitem. Das Aufspüren der anderen beiden Elemente verdanke ich einem Zufall und einer ausgesprochen markanten Blasenschwäche, die mich des Öfteren zwingt, auf dem Weg von Ahaus nach Münster einen geeigneten Platz zum Pinkeln zu suchen. Wie geschaffen für mein Vorhaben ist der Schöppinger Berg - eine kleine Erhebung, die aber im Westmünsterland schon alpine Dimensionen annimmt. Auf ihm führt ein kleiner Feldweg rechts ab, der idealerweise auch noch von Bäumen gesäumt ist. So bog ich eines Tages von der Landstraße in ihn ein und bemerkte, dass sich direkt auf der rechten Seite ein kleiner baumbestandener Platz auftat, an dessen Ende der Schöppinger Engel zu finden ist. Im Volksmund - so ist auf einer kleinen Hinweistafel zu lesen - heißt er "Der große Schutzengel" und wurde 1913 zu einem Jubiläum des damaligen Pfarrers gestiftet. Seitdem steht er an dieser Stelle und schaut auf das kleine Städtchen Schöppingen hinunter und ja - beschützt es, was wohl die beiden kindlichen Figuren in seinen Armen symbolisieren sollen. Doch eigentlich beschützt es nicht den Ort, sondern diejenigen, die sich von ihm wegbewegen. So lautet die Inschrift im Sockel der Figurengruppe: "Reise glücklich, und Gott sei auf eurem Wege, und sein Engel begleite euch." Blickt man nun vom Engel über die Landstraße hin zum Windrad, gewahrt man das schon angesprochene dritte Element der Skulpturengruppe. Es ist ein auf einem Gestell befestigter Neonschriftzug, der den Psalm 104,4 zitiert: "Er macht seine Engel zu Winden". In der Nähe des Engels gibt es nun tatsächlich auch einen Schalter, mit dem man den Neonsatz in rotem Licht leuchten lassen kann. Die Skulptur stammt von Jan Philip Scheibe und entstand im Rahmen der Skulptur-Biennale Münster 2005. Eine Erklärungstafel schreibt dazu, dass der Neonschriftzug "gleichermaßen auf den Schutzengel, die Windkraftanlagen und unseren Umgang mit Religion und Wissenschaft abzielt. Der Raum wird durch den künstlerischen Eingriff sowohl konkret als auch symbolisch neu akzentuiert."
Nun, versuchen wir einmal das, was in diesen Sätzen anklingt, mit Sinn zu füllen. Und ich schicke es voraus: Die einzelnen Deutungsansätze wirken allesamt recht platt, weshalb ich am Ende die Frage stellen werde, warum die Skulpturengruppe doch eine rätselhafte Wirkung erzielt. Zuerst sei einmal auf das entmythologisierende  Moment des Ensembles verwiesen. Die Neonschrift zeigt es an: Mythologisches und Religiöses können nur noch zitiert werden und als Werbeschrift in der Landschaft leuchten. Die Transzendenz ist sozusagen in eine Auflösung hineingeraten und statt ihrer sind die mit Engeln durchwobenen Lüfte in ein ökonomisches Energiegewinnungskonzept hineingeblasen worden. Dafür spricht auch das Gestell, auf dem der Schriftzug montiert wurde. Es besitzt eigentlich keine Substanz, sondern besteht aus  leeren Quadraten bzw. Rechtecken, durch die der Wind bläst, wodurch so etwas wie die transzendentale Heimatlosigkeit des Menschen anklingt. Gleichzeitig sind jedoch auch positive Konnotationen anwesend. Die Winde, die in sich schon einen metaphysischen Charakter tragen, da sie weder Anfang noch Ende, weder Ursprung noch Ziel kennen, wurden aus Engeln durch das "Er" geschaffen, wobei "Er" auf Gott Bezug nimmt. Und diese Winde nun schützen wie der große Schutzengel, die Menschen, indem sie ihn mit Energie versorgen, die die Schöpfung nicht zerstört. Bei dieser Deutung jedoch schiebt sich das Neonlicht störend in die Landschaft hinein, das irgendwie von etwas Unauthentischem kündet. Ich denke, beide Deutungsansätze müssen zu einem Gesamtbild zusammenfließen, zu dem aber noch etwas weiteres gehört, das die Frage der Rätselhaftigkeit des Ensembles erklären kann. Denn es gibt ein viertes Element, das der Skulpturengruppe seine Wirkung verleiht: die Landschaft. Wie gesagt befinden wir uns auf dem Schöppinger Berg; auf ihm breiten sich Felder aus, die durch die Landstraße, die Ahaus mit Münster verbindet, durchschnitten wird. Menschen halten sich hier für gewöhnlich nicht auf, so dass man trotz der vielen vorbeifahrenden Autos eigentlich eine entleerte Landschaft vor sich hat. Bewegt man sich aber in ihr, so merkt man, wie durch die Winde, die sich im Windrad und zwischen den Bäumen fangen, Leben im Ohr entsteht, das neben allen Bedeutungen rätselhaft schön ist. Eine gewisse Erhabenheit erahnt man, die mit der Verlassenheit des Ortes anhebt und alle seine Elemente in sich hineinzieht: den wie vergessen wirkenden Schutzengel, die trostlose Schrift, das in die Höhe wachsende Windrad und die Landschaft ohne Mensch. Und über alles hinweg schweben die Engel, die als Winde nur in Rätseln sprechen.   

Espen in den Sandia-Mountains

(13.10.2018)

Chiffren im Wald

Wälder sind magisch durchwirkt, was auch daran liegt, dass viele Dinge und Lebensgesetze in ihnen fremd wirken und nicht verstanden werden können. Trotz aller Fortschritte der Wissenschaften sind noch unendlich viele Zusammenhänge unbekannt, und eigentlich stochert man immer noch an der Oberfläche der Komplexität des Lebens herum. Um nur eines der Geheimnisse anzudeuten, soll auf die Rolle von Pilzmyzelien bei der Kommunikation zwischen Bäumen verwiesen werden. Man geht mittlerweile davon aus, dass Bäume untereinander kommunizieren können und dass dabei eben Pilzmyzelien eine Rolle spielen könnten. So sendet ein z.B. von Raupen befallener Baum Signale an Bäume in der Umgebung, die nun darangehen, Abwehrstoffe gegen die Insekten zu produzieren, obwohl sie selbst noch nicht befallen sind. Neben Duftstoffen kommunizieren - so zumindest die Hypothese - Bäume aber auch über elektrische und chemische Signale, die über das Wurzelsystem weitergegeben werden. Und hier nun kämen unsere Pilzmyzelien ins Spiel, die symbiontisch über die Wurzeln am Leben des Baumes beteiligt sind. Aber wie gesagt, bewiesen ist es anscheinend noch nicht, dass Pilze die Telefonleitungen des Pflanzenreiches darstellen. 
Ein anderes Geheimnis hüten die Espen, die auf den Fotos zu sehen sind und die ich in den Sandia-Mountains in der Nähe von Albuquerque gefunden habe. Ich war auf einer Wanderung unterwegs zum Sandia-Peak, und ein Teil des Weges führte durch einen von Espen geprägten Waldabschnitt. Um genauer zu sein, handelt es sich um die amerikanische Espe, - Populus tremuloides - die in der Bergeswelt der Sandia-Mountains recht häufig angetroffen werden kann. Ein Wanderer, den ich unterwegs traf, erzählte mir, dass der Herbst seine Lieblingszeit in den Sandia-Mountains sei. Dann würden sich die Blätter der Espen in ein goldenes Gelb kleiden, was wunderschön wäre. Ja, zumindest auf Fotos habe ich mich davon überzeugen können.
Ansonsten vermitteln Espen im schattigen Wald einen etwas gespenstischen Eindruck. Die Farbe ihrer kerzengerade in die Höhe treibenden Stämme hat etwas von einem bläulich-grünlichen Grau-Weiß und können im dunklen diffusen Licht schon als Ansammlung von lang in die Höhe geschossenen Knochen und Gebeinen angesehen werden. Und ihre Borke reißt in unzähligen Formen auf, was uns auf den Titel dieses Beitrages bringt.
Geht man durch einen Espenwald, so betritt man einen Raum, der rituell durchwirkt scheint. Augen starren einem aus der Borke entgegen, und man weiß nicht, ob ihre Blicke wohlwollend sind oder sich fluchbeladen auf den Wanderer legen. Dann gibt es Stellen, die einer unbekannten Schrift ähneln, deren Entzifferung unmöglich erscheint, aber ständig Botschaften ins Dunkle hineinsenden. Eine Fülle von Formen und Mustern, die einen komplexen rituellen Raum eröffnen, der dem Wanderer fremd bleiben muss. Gerade deshalb fasziniert er, und obwohl man sich in der Nähe von Espen ausgegrenzt fühlt, kann man von ihre Nähe nicht lassen; auch nicht davon, sich in ihre Schriften zu vertiefen und hineinzubegeben. Faszinierend ist es dadurch, dass man eine Spur von Bedeutungsmöglichkeiten erahnt, die sich jedoch immer wieder selbst verwischt. Ja, dieser Taumel an Formen ohne feste Bedeutungszuschreibungen erfasst denjenigen, der sich auf ein meditatives Versenken in den Espenleib einlässt.
Dabei sind Espen, die zusammenstehen, oft nur Individuen einer einzigen Mutterpflanze. Neben der konventionellen sexuellen Methode können sie sich auch vegetativ durch Rhizome "fortpflanzen", so dass die Bäume oft geklonte Wesen sind. Ist der Einzelbaum recht kurzlebig, kann solch eine Klonkolonie ein beachtliches Alter erreichen. So gibt es eine sehr bekannte Espenklonkolonie in Utah, die den Namen "Pando" trägt und als ältestes Lebewesen der Erde gilt: Man schätzt das Alter auf gut 80000 Jahre. 
Dies bringt mich dazu am Ende dieses Beitrages, nun doch eine Bedeutungsmöglichkeit der aufreißenden Formen der Rinde zu finden. Stellen wir uns vor, unzählige Espen stehen zusammen und sind eigentlich nur genetisch identische Reproduktionen einer Mutterurpflanze. Ja, ich sehe schon die Gesichter meiner Leser bei diesem Satz erblassen. Dies, wenn man die Farbe der Borke betrachtet, haben nun auch die Espen getan. Sie sind sich bewusst, alle gleich zu sein, was einen unbändigen Willen zur Eigenständigkeit, Individualität und zum Widerstand hervorruft. Nun reißen sie also in allen nur erdenklichen Formen auf, übersäen sich mit Schriften, die es in die Welt hinausbrüllen: Ich bin ein Wesen, das Individualität verdient.  
      

Eine Eiche in der Bröcke

(01.10.2018)

Der Massenselbstmord des Eichenprozessionsspinners

 Auch in der Bröcke im Westmünsterland spielen sich Tragödien eines nicht für möglich gehaltenen Ausmaßes ab. Schaut euch die Fotos an: In Fäden verhangen und an ihnen baumelnd präsentieren sich unseren Augen die leblosen Körper der Raupen des Eichenprozessionsspinners am Stamm einer Eiche. Was ist geschehen? Ich kann nicht anders als zu glauben, dass wir es hier mit einem verzweifelten letzten Akt im Leben dieses Insektes zu tun haben. Die Schuld daran muss der Mensch tragen. Allein der Name Eichenprozessionsspinner treibt die nackte Panik in die Gesichtszüge derer, die ihn hören. Ganze Feuerwehrzüge rücken aus, um mit chemischen Keulen befallene Eichen zu behandeln, und sollte dies nicht möglich sein, wird ein Absperrband um die Bäume gezogen, dass sich ja niemand nähere. Mit eigenen Augen habe ich gesehen, dass auf dieses besagte Absperrband der Name "Eichenprozessionsspinner" gedruckt ist. So ausgegrenzt als die Verkörperung eines Unwesens, haben die auf den Fotos zu sehenden Raupen keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als sich in die selbst gesponnenen Fäden zu werfen und der undankbaren Welt ein schmerverzerrtes Lebewohl entgegenzuschleudern.  Chaotisch ungeordnet haben sich ihre kleinen Körper in- und aneinander gekrümmt, was durchaus als poetische Gerechtigkeit interpretiert werden kann, ist das Leben von Thaumetopoea processionea - so sein lateinischer Name - von einem rigorosen Ordnungssinn geprägt. Auf Nahrungssuche nach leckeren Eichenblättern kriechen sie in Reih und Glied einer nach dem anderen die Stämme und Äste empor und hernieder, und es gibt auch nicht einen, der aus der Ordnung herausbricht. Doch den Gesetzen der Dialektik entgeht auch unsere Raupe nicht. Ordnung erzeugt Nichtordnung und Chaos, wovon die Todesstunde des Eichenprozessionsspinners Zeugnis ablegt.
Dem aufmerksamen Betrachter der Fotos wird bereits aufgefallen sein, dass das, was bisher zu lesen war, völliger Blödsinn ist. Nicht mit Massenselbstmord haben sie zu tun, sondern im Gegenteil mit dem Lebenswillen von Thaumetopoea processionea. Denn nicht Körper hängen in dem Gespinst am Eichenbaum, sondern ihre Hüllen. Insgesamt häuten sich Eichenprozessionsspinner fünf bis sechs Mal, bevor sie sich verpuppen, um als Nachtfalter ihr Leben fortzusetzen. Auf den Fotos ist nun eine dieser abgeschlossenen Häutungen zu sehen. Es müssen schon recht weit herangewachsene Raupen gewesen sein, denn erst nach der dritten Häutung bilden sie Brennhaare aus, die sie so gefürchtet machen. Doch trotzdem bleibt etwas von dem bestehen, was weiter oben geschrieben war: In den Gespinstern ihrer Häutung herrscht das absolute Chaos, ein Karneval der absoluten Zügellosigkeit, bevor Thaumetopoea processionea wieder brav und gestriegelt einer hinter dem anderen hermarschiert. 
Die Brennhaare der Raupen sind dafür verantwortlich, dass der Eichenprozessionsspinner bekämpft wird. Sie dringen in die menschliche Haut ein und verursachen dort Quaddeln, Entzündungen und Knötchen. In schlimmen Fällen kann bei Einatmung der Haare Asthma hervorgerufen werden, und es ist sogar von allergischen Schocks die Rede. Das Gefährliche ist nun, dass die Härchen schnell brechen und durch den Wind verbreitet werden können. Ja, selbst das Gespinst auf den Fotos ist potentiell noch gute fünf Jahre für den Menschen gefährlich, und es wird geraten die Nähe von ihm möglichst zu meiden. 
Mensch, manchmal ist es gut, recht ignorant und nichtwissend durch die Wälder zu stapfen. Als ich das Gespinst am Baum hängen sah, staunte ich über diese bizarre Formation und nährte mich ihr, machte Fotos und stupste sogar mit dem Finger gegen einige Raupenhüllen. Erst im Nachhinein machte ich mich über das Gesehene schlau. 
Und nun sitze ich hier, und keuchend hustend und mit roten schmerzhaften Quaddeln übersät, quäle ich mich durch diese Zeilen. 
Nein, - wieder alles erlogen und erstunken - ich weiß nicht wieso, aber der Eichenprozessionsspinner hat mich für dieses Mal verschont.         

Baumstämme in Aztec-Ruins

(21.09.2018)


Wasser, Baum und Stein

Schon lange hat es kein Baumstamm mehr geschafft, auf die Homepage zu kommen, obwohl ihr Name ja "rotten-trees" ist. Ganz im gegengesetzten Sinne des Geistes, der auf und in ihr ja eigentlich wehen sollte, präsentieren sich nun sogar zwei, die sich zwischen Steinen und Mörtel ihrem eigenen Verwesungsprozess widersetzen. Dieses Widersetzen scheint jedoch nicht aus eigenem Willen und Antrieb zu geschehen; vielmehr sind es Steine und Mörtel, die den Baumstämmen selbst die Luft zum Verfaulen nehmen. Eingezwängt in ein fremdes Lebensumfeld und in horizontaler Lage haben sie es aufgegeben, als Humusmasse in neue Lebenskreisläufe einzugehen und zeigen ihr abgesägtes Ende den Augen des Betrachters. In ihnen entsteht so etwas wie die Ahnung eines ästhetisch Schönen, wobei sich die Frage stellt, wie diese Ahnung zustande kommt. Nach Kant sind ästhetische Urteile zum Glück nicht dem Verstand untergeordnet, sondern entstehen im Subjekt des Erkennens. Was erkenne ich aber nun? Heterogenität, Zynismus, Funktionalität, Religiosität (Ich weiß, ein phänomenologischer Blick ist das nicht.) Die Heterogenität machen die Elemente aus, die auf den Fotos zu sehen sind. Baumstamm, eine Mauer, die aus zwei Formen von Steinen (Sandstein und ein grüner Stein) und Mörtel besteht und auf dem linken unteren Bild noch ein horizontal liegender Holzast, der den oberen Abschluss einer Tür bildet. Und natürlich den Beginn der Türöffnung nicht zu vergessen. Die Steine sind dazu noch in erstaunlichem handwerklichem Geschick eingefügt, weshalb nun kurz auf den Entstehungsort der Photos eingegangen werden muss. Die Aztec-Ruins liegen im Nordwesten Neu Mexikos in der Nähe der Stadt Aztec. Die Grenze zu Colorado ist nicht weit, was u.a. für Kiffer wichtig zu wissen ist. (In Colorado ist Marihuana legalisiert und tatsächlich pilgern etliche Neu Mexikaner in den nördlichen Nachbarbundesstaat, um sich mit weed zu versorgen.) Aztec Ruins war Teil einer Pueblo-Hochkultur, die mit der Chaco-Kultur assoziiert war. Man muss wissen, dass Chaco-Canyon von heutigen Pueblo-Indianerstämmen als der Ort ihres wirklichen und spirituellen  Herkommens angesehen wird. Die Architektur in Chaco und Aztec zeichnet sich durch einen sehr filigranen Mauerbau aus, wovon das untere linke Photo ein gutes Beispiel liefert. Der Beginn der Bauzeit in Aztec liegt um 1111, und aus dieser Zeit müssen auch unsere Baumstämme stammen. Ein weiteres Element gesellt sich der ästhetischen Wahrnehmung hinzu: das der Erhabenheit, die in geschichtlichen Zeitdimensionen steckt. Eine zweite Bau- und Besiedlungsphase begann in Aztec um 1200. Im Laufe des 12. Jahrhunderts verließen die Erstbesiedler Aztec und wanderten Richtung Norden. Dort verbanden sie sich mit der Mesa Verde-Kultur. Als Mesa Verde verlassen wurde, zogen ihre Einwohner Richtung Süden, und diese Wanderungsbewegung  liegt der zweiten Besiedlungsphase zu Grunde. Doch schließlich wurde Aztec ganz aufgegeben. Man geht davon aus, dass ihre Einwohner nach Süden in das Rio Grande-Gebiet zogen und dort neue Pueblos errichteten. So ist es tatsächlich schlüssig, dass Aztec, Chaco und Mesa Verde wichtige Erinnerungsorte der heutigen Pueblo-Indianer.--Kulturen sind, die zum großen Teil in der Rio-Grande-Region ihre Reservate haben. Die Wanderungsbewegungen dieser Menschen kann darauf zurückgeführt werden, dass im 12. und 13. Jahrhundert eine große Dürreperiode herrschte, die ihre Lebensbedingungen immer prekärer werden ließ. Und dies führt uns zu zwei weiteren Elementen, die weiter oben in Bezug auf das Ästhetische genannt wurden: der Zynismus und die Religiosität. Es stellt sich die Frage, warum in der auf den Photos zu sehenden Mauer ein Streifen grüner Steine eingefügt wurde. (Nebenbei sei gesagt, dass dies ein Alleinstellungsmerkmal Aztecs ist.) Moderne Pueblo-Indianer interpretieren den grünen Stein spirituell. Er symbolisiere auf der einen Seite das Wasser und die Fruchtbarkeit, auf der anderen Seite solle er eine Schutzfunktion für die Bewohner des Pueblos gehabt haben. 
Tja, und ist hier nicht in dieser religiösen Wahrnehmung das Element des Zynismus mit den Händen greifbar? Zumindest müsste es der jeglicher Lebensader beraubte Baum so wahrnehmen. Nach Wasser dürstend, werden unter ihm religiös aufgeladene Dinge platziert, die gerade für das Element Wasser stehen sollen. Nicht nur abgesägt, nein, auch noch bis in alle Ewigkeit verhöhnt, so muss er sein eingezwängtes Dasein fristen.
Doch schließlich kommt ihm auch eine Funktionalität zu. Er bildet sozusagen das Fundament von Stockwerken, denn die Pueblo-Kulturen zeichnen sich durch eine mehrstöckige Wohnhausarchitektur aus. In Aztec-Ruins bestand sie aus drei Stockwerken, was für den Anfang des 12. Jahrhunderts schon erstaunlich ist. 
Ein letztes Element der Ästhetik hätte ich fast vergessen: Es ist der Name. Aztec leitet sich tatsächlich von den Azteken ab, meinten doch die ersten Spanier, die die Ruinen zu Gesicht bekamen, dass seine Baumeister die Azteken gewesen sein mussten. (Man merkt den Respekt, den die Ansicht Aztecs in ihnen ausgelöst haben muss.)
Kommen wir zum Abschluss noch einmal zu Kant und seinem Ästhetikbegriff zurück. Wiederholt sei, dass er nichts mit Vernunft- oder Verstandesurteilen zu tun habe. 
Wie wir gesehen haben, sind Baumstamm, Mauer, Sandstein und grüner Stein mit den Begriffen der Heterogenität, Zynismus, Funktionalität und Religiosität zu umschreiben.
Ich bin überzeugt, dass sie nicht stimmig durch die Vernunft miteinander verbunden werden können: Ja, die Zusammenstellung der Elemente der Photos ist schön. Und wenn wir jetzt noch wüssten, wohin die Tür des unteren linken Photos führt, dann, ja dann...…..      

Ein Fahrradständer in Albuquerque

(16.09.2018)

Kokopelli und die Paradoxien des Daseins

Ich wusste, dass die Blogseite über Orte so langsam an Fahrt gewinnt und hatte ich im letzten Beitrag schon einen Außerirdischen vorgestellt, hat es nun ein Fahrradständer geschafft, ins Rampenlicht zu rücken. Wie ich in den kommenden Wochen allerdings diese Steigerung zum absoluten Klimax weiter aufrecht erhalten soll, ist mir etwas schleierhaft und wird mir sicherlich einige schlaflose Nächte kosten. Allein ein Fahrradständer in einer nordamerikanischen Großstadt wäre ja schon einen Beitrag wert gewesen, scheint der US-amerikanische Mensch an sich doch mit dem Auto verwachsen zu sein.  Aber es gibt sie - die Fahrradfahrer - besonders im Universitätsviertel von Albuquerque, in dem die oben zu sehenden Fotos entstanden sind. Die Form der Figur hat comichafte Züge und strahlt in meiner Wahrnehmung Wut aus. Wut worauf? Nun, als erstes fällt auf, dass bei ihr nicht gerade von Bewegungsfreiheit gesprochen werden kann. Ihre Füße sind einbetoniert, so als hätte jemand ein Strafexempel an ihr statuiert und nun wütet unser Gegenstand still vor sich hin und wartet darauf, dass ein unbedarfter und unvorsichtiger Fahrradfahrer sein Gefährt an ihn schließt. Wehe, die klauenrunden Arme würden ihn sicherlich mit hinunter unter den Asphalt ziehen und kein Schrei würde jemals die Oberfläche erreichen. Vielleicht auch deshalb habe ich die Male, an denen ich an ihm vorbeiging, nie ein Fahrrad in seiner Nähe - geschweige denn festgeschlossen an ihm - gesehen..
Die Figur repräsentiert nun etwas, was für Neu Mexiko schlechthin zum Symbol geworden ist: Kokopelli. Jeder Souveniershop der Region wartet mit unzähligen Dingen auf, die sein Konterfei tragen: Tassen, Schlüsselanhänger, T-Shirts, Figuren, Aufkleber usw. Ja, Kokopelli ist zu einem einträglichen Geschäft geworden, was irgendwie aber auch zu seinem Charakter passt. Das erste Mal tauchte die Figur in vorchristlicher Zeit in der archaischen Periode auf Felszeichnungen auf, bis sie in der Anasazi-Kultur (eine Vorläuferkultur der heutigen Puebloindianer) zwischen 750-900 mit allen Attributen ausstaffiert wurde, mit denen wir sie bis in die heutige Zeit kennen. Wichtigstes Attribut ist die Flöte und ein überdimensionaler Phallus, wobei beide nicht an unserem Fahrradständer auftauchen. Gerade ein überdimensionaler Penis würde doch Platz für etliche Fahrräder schaffen, doch soweit haben seine Hersteller anscheinend nicht gedacht, und man muss bedauerlich feststellen, dass mal wieder Prüderie über Funktionalität gesiegt hat. 
Kokopelli ist nun eine Figur, die Fruchtbarkeit repräsentiert (deshalb auch der Phallus) und in der Hopikultur gibt es eine Kachina (ein Geist-/Gottwesen), die den Namen Kookopölö trägt, von dem der Name Kokopelli abgeleitet wurde. Kachinas gibt es in der Hopikultur sehr viele. Es sind , wie schon erwähnt, Geister bzw. Gottheiten, die in rituellen Tänzen verkörpert werden. "Verkörpert werden" ist eigentlich ein falscher Ausdruck, denn die Gottheiten gehen in die Körper der sie repräsentierenden Tänzer ein, ja, ergreifen Besitz von ihnen. und werden für kurze Zeit Teil der Gemeinschaft, um ihr helfend beizustehen.
Da mir gerade aufgefallen ist, dass Kokopelli und Fahrradständer nicht gerade in das Konzept der Homepage passen - so soll ja um rotten trees, Pilze und Wälder gehen - ist mir im letzten Moment die rettende Wendung eingefallen. Dass, was den Tänzern in der Aufnahme eines Gottes widerfährt, ist in meiner beschränkten Wahrnehmung vergleichbar mit dem, was während einer psychonautischen Fahrt nach der Einnahme psychoaktiver Pilze passiert. Der Körper wird ergriffen von etwas und wird ein anderer und transzendiert sich.
Kookopölö  ist der Gott der Fruchtbarkeit, der schon zu Zeiten der Anasazi mit der Zikade assoziiert wurde. Der Kachinatänzer, der Kookopölö  repräsentiert und zu ihm wird, trägt die Flöte - das Attribut Kokopellis - als Zikadenmaul direkt im Gesicht. (Auch die Zikade gilt immer noch in heutigen Pueblokulturen als Symbold der Fruchtbarkeit.) und einen Flaschenkürbis als Penis.
Eben jene Elemente, die unserem Fahrradständer fehlen. Ein amputierter, einbetonierter Kookopölö - so langsam versteht man seine Wut. 
Doch eine Geschichte über Kookopölö  muss noch erzählt werden, bevor wir ein abschließendes Urteil über sein Fahrradständerdasein fällen können. (Und diese Geschichte gibt es in ähnlichen Versionen bei anderen Puebloindianerstämmen.) Eines Tages verliebte er sich in die Tochter eines Häuptlings, die jedoch nichts von ihm wissen wollte. Nicht mehr Herr seiner Geilheit, vergrub er sich an der Stelle, an der die Frau seiner Begierde regelmäßig urinierte. Nun, meine Leser ahnen es schon. Als sie so urinierend dasaß, drang Kookopölös Penis in sie ein und schwängerte sie. Sicherlich muss die Geschichte im Kontext der Fruchtbarkeitssymbolik interpretiert werden.
Trotzdem frage ich mich, was mit unserem Fahrradständer in Zeiten von "Me too" geschehen würde, wenn seine wahre Natur ans Licht kommt. 
Fassen wir noch einmal alle wichtigen Elemente zusammen: Kokopelli - Fahrradständer - Amputation - Penis - Zikade - Gott - Vergewaltigung - Symbol - Neu Mexiko.
Wenn jetzt noch jemand meint, der Titel des Beitrages wäre völlig falsch gewählt, der kann mich mal.     


Das Petroglyph National Monument in Albuquerque

(12.09.2018)

Ein Außerirdischer und ein Pilz

Das Petroglyph National Monument liegt am westlichen Stadtrand Albuquerques und wartet mit einer Unzahl wirklich beeindruckender Petroglyphen auf. Und unter sie hat sich etwas eingereiht, was ich nicht anders als einen Außerirdischen beschreiben kann. Schaut ihn euch an: Seinen breiten abgeflachten Kopf, aus dem drei Antennen hinausragen; seinen langestreckten, gewundenen Hals, den drei Ketten oder Bänder zieren. Der kurze Bauch scheint von einem Tuch umhüllt, aus dem sich die Beine seitlich und unproportional hinausstrecken. Dass er keine Arme hat, scheint ihn nicht weiter zu stören; ganz im Gegenteil: Man bekommt den Eindruck, als ob er tanze und irgendein unbekanntes Ritual vollziehe. Auch den Archäologen, die im Petroglyph National Monument forschten, war dieser Geselle nicht ganz geheuer. Sie gingen davon aus, dass er aus einer neueren Zeit stammen müsse, denn tatsächlich stellen sich bei seinem Betrachten moderne comichafte Assoziationen ein. Doch die in Folge angestellten Untersuchungen ergaben, dass diese Felszeichnung aus dem 14. Jahrhundert stammt. Die meisten der im National Monument gefundenen Petroglyphen enstanden von 1300 bis zum Ende des 15. Jahrhunderts. Die Vorfahren der jetzigen Puebloindianer siedelten in dieser Zeit entlang des Rio Grandes, der nicht weit entfernt von den Canyons, an deren Seiten auf Basaltsteinen die Felszeichnungen zu finden sind, vorbeifließt. In den Canyons selbst (es sind insgesamt drei, von denen ich allerdings nur einen besuchte) siedelten sie nicht, so dass man fast den Eindruck bekommt, dass diese Orte eine besondere spirituelle Bedeutung gehabt haben müssen. Selbst heute kann man etwas davon spüren, wenn man durch die Wüstenlandschaft spazieren geht und die Spuren von ehemals existierenden Menschen wortwörtlich ertasten kann. Nach den Puebloindianern haben sich andere Spuren auf die Steine gelegt. Man findet Petroglyphen aus dem 16.  und 17. Jahrhundert, die von spanischen Hirten stammen. Sehr oft sieht man das christliche Symbol des Kreuzes. Haben auch sie eine Aura in diesen Canyons erfahren? Ja, ein magischer Ort war er wohl auch für sie. Die modernen Puebloindianer können viele der Zeichnungen ihrer Vorfahren deuten und es gibt eine kulturelle und spirituelle Kontinuitätslinie zwischen den Jahrhunderten. Doch ich bin sicher, dass auch sie an unserem Außerirdischen scheitern werden. Ein Wesen, dass jegliche Bedeutungsbeschreibung mit seinen tanzenden Füßen in den Wüstensand tritt, auf dass sie dort zwischen malmenden Sandkörnern verdorre. Doch ich kann es nicht lassen und werfe mich der Signifikanzbestie in die Arme, was im Folgenden zu sehen sein wird. Nachdem ich den Außerirdischen gebührend betrachtet und versucht hatte, mich in seinen tanzenden Rhythmus hineinzubewegen, fand ich das Wesen, das auf dem oberen rechten Foto zu sehen ist. Es ist ein Pilz, und das schien mir fast unglaublicher zu sein als die Landung eines Ufos aus einer entfernten Galaxie. Ein Wüstenpilz, der zu der Gattung Tulostoma (Stielboviste) gehört. Wenn man ihn ausgräbt, sieht man einen Stiel, auf dem sich der rundliche sporenbildende "Hut" (eher Sack) befindet. Gerne hätte ich ihn auch im Pilzblog vorgestellt, doch bei einer Bestimmung auf Artebene bin ich kläglich gescheitert, und selbst nordamerikanische Pilzforen konnten mir nicht weiter helfen. Doch noch immer stellt er einer der faszinierendsten Funde dar, die ich je gemacht habe. Kommen wir jedoch zur Signifikanzbestie zurück. Das Peristom (die Öffnung, aus der die Sporen entlassen werden) des Pilzes zeigt in die Richtung, in der sich der Außerirdische auf dem Basaltstein befindet. Eine direkte Verbindung deutet sich an. In Wirklichkeit ist der Pilz kein Pilz, sondern ein Strahlen sendendes Fluidum, das eines Tages unseren Außerirdischen einsaugen wird und heimträgt. Ein E.T. der Puebloindianerwelt, der im Wüstendsand Albuquerques den Kontakt mit seiner Welt verloren hat. Doch vielleicht zeigt er sich tanzend auf dem Stein, um uns eine Botschaft zukommen zu lassen, und erst, wenn wir sie verstanden haben, kann er seinen armlosen Tanz beenden. Welches könnte nun seine Botschaft sein? Ich bin mir nicht sicher, doch glaube, dass sie mit Pilzen und Tanz im Wüstensand gefunden werden kann.           

Ein Oberlichtfenster in Albuquerque

(02.09.2018)

Die Ästhetik des Hagels

Um genauer zu sein, ist das Oberlichtfenster ein Küchenoberlichtfenster und befindet sich in einem Wohnhaus in der Nähe der University of New Mexico. Gut, den Ort des Geschehens hätten wir eingekreist, wenden wir uns nun dem zeitlichen Rahmen zu. In den Monaten Juni, Juli, August und September herrscht in Neu Mexiko die sogenannte Monsoon-Season, was bedeutet, dass normalerweise gegen Abend schwere Gewitter über das Land niedergehen. So auch eines Abends, an dem ich mich in dem Haus meines Bruders aufhielt, und die sich dunkel auftürmenden Wolken, Blitze und Donner kündeten schon von schweren Niederschlägen. Wir verließen den Garten und machten es uns im Wohnzimmer mit einem schön gekühlten Bier gemütlich. Und plötzlich begann es: Schwere Schläge erschütterten das Haus, und ein Blick aus dem Fenster genügte, um zu wissen, was los war. Wie von wütenden Götterhänden geschleudert, prasselten faustdicke Hagelkörner aus dem Himmel herab. Ein schepperndes und splitterndes Geräusch aus der Küche ließ uns nichts Gutes ahnen und vorsichtig nährten wir uns dem Türrahmen, der zu ihr führte. Das Oberlichtfenster war bereits rissig geborsten, doch der Hagel zeigte kein Erbarmen und schließlich brach es auf, und wiederum mussten wir Zuflucht im Wohnzimmer suchen, denn unkontrolliert fielen und prallten und schlugen und flogen die Hagelkörner wie beseelte Wesen durch den Küchenraum.
So plötzlich wie es kam, ging das Unwetter auch wieder vorüber, und wir machten uns daran die Hagelkörner vom Boden und von Anrichten wegzuräumen und in den Garten zu befördern. Doch der Blick zum Oberlichtfenster ließ uns innehalten. Ein merkwürdiges Wesen hatte der Hagel in das Plexiglas geschlagen, durch das der noch immer dunkle Abendhimmel hineinschien. Ein Wesen aus Himmel, das Lebendigkeit und Keckheit ausstrahlte. Der Gedanke kam mir, dass der Hagel hier sein eigenes Wesen hinterlassen habe, eine Manifestierung eines geballten Kraftwesens, dass nun hockend im Ätherleib sich seiner eigenen Kraft erfreute. Die Assoziation zum Sandmännchen kam mir, nur dass hier statt Sand den Kindern Hagelkörner in die Augen geprügelt wurden. 
Am nächsten Morgen schien sich der durch die Gestalt hindurchscheinende Himmel nicht verändert zu haben, jedoch hatte sie dank der Sonne ihren Körper verdoppelt und erstrahlte, nun nur aus Sonne bestehend, an der Wand. Viel Gemeinsames schienen beide Wesen  - obwohl ein und dasselbe - nicht zu haben. In ihrer Verdopplung schienen sie eine Eigenständigkeit erreicht zu haben, die abstrakt schön zu nennen war. Und die wahre Ästhetik geht nunmal von Dingen und Wesen aus, die nicht verstanden werden können. Sie genügen sich in ihrer eigenen Form und werden offen für Bedeutungszuschreibungen, die keinen langen Bestand haben.
Allein, dass eines von ihnen aus Himmel, das andere aus Sonne besteht, zeugt von einem ätherischen Bedeuten, dass sich selbst auflöst.
New Mexico ist eine Region, die mythisch durchwirkt ist. Landschaften, Steine, Tiere haben dank der noch lebendigen Pueblo-Indianer-Kulturen spirituelle Bedeutungen, die sich dem normalen Gringo nur langsam erschließen. Eine Ahnung davon gibt das Küchenoberlichtfenster in Albuquerque, in dem sich die spirituelle Kraft des Hagels in einer abstrakten Himmels- und Sonnenästhetik ausgedrückt hat.

Ein Krokodil in Knechtsteden

(28.08.2018)

Pantokrator und Menschenfresser

Geht die größte Gefahr in Knechtsteden und seinen angrenzenden Wäldern von Wildschweinen aus, staunte ich nicht schlecht, dass ausgerechnet in dem heiligen Raum der Klosterbasilika St. Andreas ein Tier an der Wand in der Nähe der Westapsis lehnte, dem ich zumindest beim Pilzesammeln nicht begegnen möchte: ein Krokodil. Etwas erstaunt stellte ich mir die Frage, was ein Krokodil in einer romanischen Basilika zu suchen habe und überlegte, was für biblische Zusammenhänge hier ins Spiel kommen könnten, doch so tief ich auch in meinem Konfirmandenkirchenfundus schürfte, es wollte mir einfach nichts einfallen. Zum Glück gewahrte ich neben dem Krokodil eine Hinweistafel, die mich allerdings, statt aufzuklären,  mit noch mehr Fragen zurückließ. Es war auf ihr zu lesen, dass ein Museumsführer erzählt habe, dass dieses Krokodil aus dem Amazonas stamme und schon einen Missionar gefressen hätte. Schön und gut, aber warum lehnte es nun im westlichen Innenraum des Kirchengebäudes? Die Antwort fand ich relativ schnell. Rechts vom Krokodil gelegen, führte eine kleine Tür in den Kreuzgang, in dem eine kleine Ausstellung besucht werden konnte, die den wundersamen Titel "Knechtstedener Wunderkammer - Der Kreuzgang lebt" trug. In ihr waren aus verschiedenen Kontinenten (hauptsächlich Afrika und Asien) ausgestopfte Tiere zu sehen. Wie man bei ausgestopften Tieren allerdings auf die Idee kommen kann, den Kreuzgang als lebend zu titulieren, ist mir etwas schleierhaft. Doch seis drum. Schließlich hatte ich das erste Geheimnis des Krokodils gelöst: Es war Teil der Ausstellung. Doch es drängten sich bald weitere Geheimnisse auf, die schier unlösbar waren. Das Kloster Knechtsteden gehört dem Orden der Spiritaner, die als Missionare in der ganzen Welt tätig sind. Teils aus wissenschaftlichem Interesse, teils aus Kuriositätensammelgier brachten sie diverse Dinge aus ihren Missionseinsatzorten mit nach Deutschland, die in einem kleinen völkerkundlichen Museum im Kloster Knechtsteden ausgestellt wurden. Das Museum gibt es nicht mehr, doch im Kreuzgang werden regelmäßig Ausstellungen mit Objekten aus dem Museumsfundus gezeigt. Nun waren es also ausgestopfte oder sonstwie präparierte Tiere, die gezeigt wurden. 
Doch kommen wir noch einmal auf die Positionierung des Krokodils zurück. Wie gesagt lehnte es an der Wand in der Nähe der Westapsis, in der ein wunderschönes Fresko aus dem 12. Jahrhundert zu sehen ist, in dessen Mitte Gott von einer Mandorla umhüllt als Pantokrator - Allherrscher - dargestellt ist. Zwar aus dem Blickfeld des Pantokrators gerückt, zeigt die Schnauze des Tiers doch in die Höhe, in der er thront. Wehe, man schöbe das Krokodil auch nur zwei Meter nach links: mit der Herrlichkeit des Allherrschers wäre es in der kurzen Zeit eines Auf- und Zuschnappens vorbei, und es bräuchte schon ein Wunder, dass - wie Jonas im Bauch des Wales - er im Bauch des Krokodils überleben sollte. Und blutrünstig schien unser ausgestopftes Tier zu sein. Neben dem Missionar wurden anscheinend auch Heidenkinder Opfer seiner Blutgier. Als perfide Gegenstandspositionierungen im Ort kann man auf dem rechten unteren Foto ein Taufbecken erkennen. Ist dies nun ein letztes Aufbäumen der katholischen Kirche vor der Gefahr, als metaphysischer Bedeutungsträger obsolet zu werden und nun Krokodile in allen Kirchen zur Warnung, was ohne katholisches Heil passieren kann, aufstellen lässt? Ja, die Heidenkinder, von denen auf einem kleinen Zettel zu lesen war, hätten es sicher vorgezogen, getauft zu werden, als von dem Krokodil gefressen zu werden. Warum dann aber auch der Missionar in den Klauen der Bestie umkommen musste, bleibt ein weiteres Geheimnis.
Doch weitere Informationen auf der Schautafel rücken alles, selbst das Krokodil, in ein diffuses Wirklichkeitsschimmern. Die Konturen lösen sich auf. Zuerst die Herkunft: Mittlerweile geht man davon aus, dass das Krokodil nicht aus dem Amazonas, sondern aus Neuguinea stamme. Gut, also Neuguinea. Den Zeitungsfetzen, der auf dem oberen linken Foto zu sehen ist, wurde in dem linken Nasenloch des Krokodils gefunden. Es ist eine indonesische Zeitung vom Oktober 1948. Wie kommt nun eine indonesische Zeitung in das Nasenloch eines Krokodils aus Neuguinea, das im Amazonas Menschen gefressen hat? Eine mögliche Antwort wäre, dass in ihm tatsächlich biblische Kräfte wirken und die Nähe zum Pantokrator nicht zufällig gewählt wurde.