Eine Leerstelle

Hochsitze bringen Kindheitserinnerungen zurück. Nicht aus dem Ort, in dem ich groß geworden bin. Wenn in den kleinen Waldüberbleibseln, die es dort gibt, Jäger Hochsitze aufgestellt hätten, wären ihre Opfer wahrscheinlich höchstens Hunde, Katzen und Spaziergänger gewesen. Die Erinnerungen stammen aus den Kinderurlaubstagen, die wir oft in Süddeutschland verbrachten. Und dort gab es die kindliche Abenteuerlust anfeuernden Hochsitze zu Hauf. Es gab keinen, den ich nicht erklimm, und ich erinnere mich auch an keinen, der nicht in irgendeiner Form morsch gewesen wäre. So gestaltete sich das Emporklettern des Öfteren als waghalsiges Unterfangen, was ich aber kindlich unbekümmert heil überstand. Heute frage ich mich allerdings, ob diese wackeligen und morschen Hochsitze nicht gefährlicher für die Jäger als für das Wild gewesen sind. Gibt es eigentlich Statistiken zu hochsitzgeschuldeten menschlichen Todesfällen? (Die Schrotflintenopfer mal außen vor gelassen.)

Im Westmünsterland gibt es Gedenksteine für jeden noch halbwegs skurrilen und aus der Reihe fallenden Todesfall: Pferdabwürfe, Traktorabwürfe, Blitzeinschläge, Mörderhände - all dies wird auf Gedenksteinen der Ewigkeit anvertraut. Ein Hochsitzabwurf ist mir allerdings bei meinen Wanderungen noch nicht untergekommen. Vielleicht liegt es daran, dass diese Todesart der Standesehre der Jägerzunft zuwiderläuft. Was könnte man auch auf solch einen Stein schreiben? So etwas wie: "In den Höhen der Waldesluft, den Rehbock im Visier, streckte ein Stück verfaultes Holz Jäger soundso nieder?" Nein, so etwas will wahrscheinlich niemand lesen.

Zugegebenermaßen sind die Hochsitze in der Bröcke nicht so morsch wie ich es aus meinen Kindertagen in Erinnerung habe. Aber es gibt sehr viele von ihnen. Besetzt habe ich aber noch keinen von ihnen gefunden. So stellen sie im gewissen Maße Leerstellen dar, Leerstellen einer Drohung, die seltsamerweise anwesend abwesend ist. Der funktionelle Gebrauch eines Hochsitzes ist mir durchaus vertraut. Aber diese abwesende Anwesenheit lädt geradezu dazu ein, diesem drohenden Zeichen einen neuen Gebrauchwert einzuschreiben. So stelle ich mir oft vor, ein Picknick auf ihm zu veranstalten und den Ausblick in die nähere Waldesumgebung zu genießen. Auf seinem Holz könnte man Pilze suchen. Man könnte - es lebe die Subversion - sein Holz mit dem Pilzmyzel des Austernseitlings impfen und im folgenden Jahr eine reichliche Beute einsammeln. Weitere Gebrauchsmöglichkeiten der Hochsitze: tibetanische Gebetsfahnen an ihnen befestigen und Gebete zum Himmel schicken;  sie karthografieren und auf einer Gebietskarte als Fluchtpunke vor Wildschweinen und wilden Hunden eintragen; als Kunstobjekte vermarkten und Kunstführungen durch Wälder veranstalten; sie in Stilrichtungen einordnen; als Pinkelplatz benutzen. 

So ganz verlieren sie ihre Drohung jedoch nicht. Auch ich als Pilzsammler bin potentiell gefährdet. Wenn im Herbst die Schüsse zu hören sind, versuche ich ihre Richtung zu orten und ihre Nähe möglichst zu meiden. Bisher ist es gut gegangen. Ha, giftige Pilze. Die Gefahr lauert auf den Hochsitzen.