Gestutzte Eiche
Wie haben sie dich, Baum, verschnitten
Wie stehst du fremd und sonderbar!
Wie hast du hundertmal gelitten,
Bis nichts in dir als Trotz und Wille war!
Ich bin wie du mit dem verschnittnen,
Gequälten Leben brach ich nicht
Und tauche täglich aus durchlittnen
Rohheiten neu die Stirn ins Licht.
Was in mir zart und weich gewesen,
Hat mir die Welt zu Tod gehöhnt,
Doch unzerstörbar ist mein Wesen,
Ich bin zufrieden, bin versöhnt,
Geduldig neue Blätter treib ich
Aus Ästen hundertmal zerspellt,
Und allem Weh zum Trotze bleib ich
Verliebt in die verrückte Welt.
Gesägte Eiche
Trotz und Wille scheint aus dem Baumstamm der Fotos hinausgetrieben zu sein. Gestutzt würde er höchstens in euphemistischen Umschreibungen eines Försterstammtisches genannt werden, nein, hier wurde mit der Motorsäge der Baum in einen langen glatten Stamm verwandelt, der so nichts mehr von einem unzerstörbaren Wesen offenbart. Auch geduldig treibt er aus den zerspellten Ästen keine Blätrter mehr hervor. Hier ist, um der Logik des Gedichtes Hesses zu folgen, ein "Ich" zu Tod gehöhnt, und eine verrückte Weltliebe möchte man ihm auch nicht mehr unterstellen. Doch schaut man genauer hin, so entdeckt man andere Wesen auf ihm, die der Welt sozusagen die Stirn bieten und einen gewissen Trotz zum Ausdruck bringen. So als wolle der Stamm verkünden: "Habt ihr auch alles Leben in mir zerstört, das Leben an sich keimt trotzdem an meinem Wesen, treibt zwar keine neuen Blätter mehr, jedoch zeitigt es einen Drang, der unzerstörbar ist. Waagerecht auf dem Erdboden liegend, lassen sich Flechten und Pilze auf seiner Oberfläche sehen, die dem gefällten Baum zu Hilfe eilen, um davon zu künden, dass das Leben an keine Endpunkte gelangt.
Auch wenn die Verse des Gedichts von Hermann Hesse äußerlich nicht abgesetzt sind, lässt sich leicht eine vierversige Strophenform erkennen. Vier Quartette stellen das lyrische Ich in einen Zusammenhang mit der gestutzten Eiche. Was geschildert wird, ist das, was man Selbstbehauptung und inneren Frieden nennen könnte. Folgerichtig ist die Form des Gedichts als harmonisch, einfach, ja, fast fröhlich zu bezeicnen. Die Harmonie und Einfachheit wird durch den regelmäßigen Paarreim und den jambischen Rhythmus unterstrichen. Trotz aller Zerspelltheit und Verschnittenheit und trotz aller höhnender Welt liegt die einzige Schärfe auf der semantischen Ebene, die durch die Form in eine - wenn man so will - Weichheit überführt wird.
In der ersten Strophe wird der Baum beschrieben und als "du" angesprochen, wodurch die Verbindung zum lyrischen Ich offensichtlich wird. Er, der Baum, ist "verschnitten", erscheint "fremd und sonderbar", hat "gelitten", doch das, was von ihm geblieben ist, ist ein unbändiger Lebenswille, der durch die Worte "Trotz und Wille" umschrieben wird.
In der zweiten Strophe nun vergleicht sich das lyrische Ich mit dem geschundenen Baum. So wie er hat er gelitten, doch allen "Rohheiten" zum Trotz richtet er seine Stirn ins Licht. Die Betonung dieses Wortes bestimmt die Grundrichtung des gesamten Textes. Das Widerfahrene gefährdet nicht den Kern des Wesens, des Ichs, was weiter in der fogenden Strophe anklingt. Dort liegt im vierten Vers nach der durch das Komma eingefügten Zäsur die Betonung auf dem Verb "bin". Diese Betonung ist sicherlich nicht zufällig zustande gekommen, zeigt sie doch das Beharren des Seins.
In der letzten Strophe hat das Ich die Identität des Baumes angenommen:"Ich" treibe neue Blätter hervor. Und die letzten zwei Verse thematisieren auch durch eine formale Besonderheit die Verbindung zwischen der leidzufügenden Welt und dem unversehrten, friedvollen Ich: "Und allem Weh zum Trotze bleib ich / Verliebt in die verrückte Welt. Das Enjambement, das beide Verse verbindet drückt es einfach, aber eindrucksvoll aus: Das Weh der Welt bringt keine Zäsur in das Wesen des Ichs, sondern beschwingt nimmt es es in die letzten Worte mit in sich hinein, denn fast schon in einer stoischen Geste gelingt es ihm, sein Innerstes zu behaupten.
Nun, über Kern und Ich und Wesen könnte man sich stundenlang streiten, doch belassen wir es dabei und wenden uns noch einmal dem Baumstamm der Fotos zu. Ich bezweifele, dass ihm das Gedicht gefallen hätte. Mit einer stoischen Geste scheint ihm nicht mehr geholfen. Doch Trotz und Wille haben für ihn die Pilze und Flechten übernommen, was zumindest für den Betrachter einen kleinen Trost spendet.