Der Einsame

Verhaßt ist mir das Folgen und das Führen.

Gehorchen? Nein! Und  aber nein - Regieren!

Wer sich nicht schrecklich ist, macht niemand Schrecken:

Und nur wer Schrecken macht, kann andre führen.

Verhaßt ist mirs schon, selber mich zu führen!

Ich liebe es, gleich Wald- und Meerestieren,

mich für ein gutes Weilchen zu verlieren,

in holder Irrnis grüblerisch zu hocken,

von ferne her mich endlich heimzulocken,

mich selber zu mir selber - zu verführen.

Die holde Irrnis

Das Gedicht "Der Einsame" von Friedrich Nietzsche kommt in zwei Teilen daher, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Der erste Teil wir sozusagen gerahmt durch das Wort "Verhaßt" des ersten und des fünften Verses. "Verhaßt ist mir", "Verhaßt ist mirs" - die Dialektik des bürgerlichen Seins in der Welt. Diese Dialektik spielt sich zwischen den Begriffen "Folgen", "Gehorchen" auf der einen Seite und "Führen", Regieren" auf der anderen Seite ab. Nein, diesen Begriffen kann man wirklich nur seinen Hass entgegenschleudern. Emphatisch ertönt das "Nein! Und aber nein" einer Logik, von der sich das lyrische Ich abwendet. Im Führen steckt sogar der Schrecken. Und interessant ist es, dass es nicht nur der Schrecken für andere ist. Selbst der Führende sei sich selbst schrecklich, hat sich bis zur Unkenntlichkeit entfremdet, ansonsten wäre er gar nicht in der Lage, Führung zu übernehmen. Nein, nicht mit dem lyrischen Ich, das selbst eine Selbstführung des eigenen Ichs in seine Schranken verweist.

Das Ich muss anders erscheinen, und so beginnt der zweite Teil mit den Worten: "Ich liebe es, gleich Wald- und Meerestieren". Die andere Logik des In-der-Welt-Seins wird beschworen. Das Ich wird den Waldes- und Meerestieren gleichgestellt, die etwas repräsentieren und symbolisieren, was der "bürgerlichen" Ordnung trotzt. Im Wald und im Meer herrschen anscheinend andere Gesetze. Das Gesetz ist das der "holden Irrnis". Worin es besteht wird nicht näher ausgeführt, aber man kann vermuten, dass "Irrnis" auf ein Denken hindeutet, dass sich den menschlichen Daseinsgesetzen widersetzt. Es ist eine Irrnis, die ein Fließen zurück in die Dinge bringt, um sie aus starrgewordenen Konventionen herauszubrechen. Auch das "Ich" ist ein Gebilde, das aus seinem alten Wirken herausgebrochen wird. Und all dies geschieht durch das "grüblerisch [...] hocken". Das Denken in anderen Sphären verwandelt die Welt und das Ich, was wunderschön in den abschließenden zwei Versen anklingt: "von ferne her mich endlich heimzulocken,/mich selber zu mir selber - zu verführen." 

Der Heimatpunkt hat sich in der "holden Irrnis" verschoben. Er befindet sich in der Ferne, von wo aus es den Ruf an das Ich richtet, es verführt, es ins eigentlich Heimatliche zurückzuführen, "zu verführen". Was nun das Heim ist, wird nicht genannt, ja, kann nicht genannt werden. Es ist das Wandeln des Ichs, das Eingehen in immer Neues, was das Heimatliche ausmacht. Es ist die Ferne, in der das Ich noch nicht ist, aber gelangen kann. Dem Leben des Führens und Folgens als dumpfer Kreislauf wird hier eine Bewegung entgegengesetzt, die nicht zirkulär im ewig Gleichen verharrt, sondern im Aufbruch neue Sinnsetzungen schafft. Wie Waldeswesen für den Menschen schwer fassbar sind, wird hier ein Lebensentwurf gezeichnet, der die Schrecken verscheuchen kann, indem er zu immer neuen Waldrändern aufbricht.