Tote

In den feuchten Wäldern, im Herbst,

kommend aus den Kälten, rot

fliegen über Moose und die Zweige

in Wirbeln, die verwelkten Blätter,

gibt der Nebel, sich weitend in der Leere

der welken Landschaft ungewissen Ton

Und das Laub aus dem das Fließen floh

Hat ein Lebwohl für den vergangnen Sommer.

          Und eine düstere traurige Farbe 

          Wie das verwischende Gedenken

          An das was war und nicht mehr ist.

 

 In den alten Zimmern gibt es Schränke

die in der heimlichsten und stillsten Ecke

von vergangner Glut und Rausch

wahren mit dem Duft des nicht Endeckten

alte Liebesbriefe, schon verstummt

die drängen bessre Zeiten zu beschwören

und schwarze und verwelkte Sträuße

die sind wie die Kadaver echter Blumen

             Und haben einen traurigen Geruch

             Wie das verwischende Gedenken 

             An das was war und nicht mehr ist.   


Und in den Liebesseelen wenn sie denken

an verlorene Zärtlichkeiten

die aus der Einsamkeit von fernen Tagen

nicht kommen ferne Stunden zu versüßen

ist tiefe Müdigkeit die in dem Wringen

schließlich die Verletzten tötet

vage wie die welken Wälder

wie der Duft vergangener Düfte

           Und jene Müdigkeit ist traurig

           Wie das verwischende Gedenken

           An das was war und nicht mehr ist!


Die Bedeutung der Kadenz

Der Verlust trieft nur so aus den Versen von José Asunción Silva, dem kolumbianischen Modernisten, der in die zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hineingeboren wurde. 30 Jahre lang hat er gelebt, bevor er sich eine Kugel ins Herz schoss. Verlust, Verzweiflung und Scheitern haben auch sein Leben geprägt. Ein Scheitern als Diplomat und ein Scheitern als Geschäftsmann. Und ein besonderes "Scheitern" stellt der Verlust eines Großteils seines Werkes dar, als er von einer diplomatischen Mission von Caracas nach Kolumbien zurückkehrt. Das Schiff, auf dem er fährt, sinkt vor der kolumbianischen Küste und mit ihm die Seiten seiner Gedichte und Erzählungen. Irgendwie poetisch ist es schon, wenn man sich vorstellt, wie die Tinte seiner Verse sich im Wasser der Karibik langsam auflöst und sich mit ihm vermischt. So müssten immer noch kleinest Partikel seiner Worte in den Wassern schweben. Taucht hinein in das Werk Silvas, so möchte man es den Badenden zurufen.

Der Grundgedanke des Gedichtes "Muertos" lässt sich gut in den drei Versen nachspüren, die jede Strophe beschließen. Dort ist die Rede von dem "verwischenden" sich auflösenden "Gedenken/an das was war und nicht mehr ist". Und schon haben wir ein fundamentales Problem meiner Übersetzung vor Augen. Im spanischen Orginaltext heißt es:"De lo que fue y ya no existe". (Wörtlich: an das was war  und schon nicht mehr existiert). "Existe" endet mit einer weiblichen Kadenz, das "xis" wird betont und verhallt in dem "te". Wie die Dinge und Wesen: Sie existieren nicht mehr, aber ihre Spuren sind anwesend und verwandeln den Raum. Meine deutsche Übersetzung ist kategorisch, nichts schwingt mehr nach und somit läuft es eigentlich dem Inhalt entgegen. "An das was war und nicht mehr ist": Definitiv ist hier ein Ende bezeichnet, das selbst die Spuren verwischt. Nein, dies ist nicht im Sinne Silvas: Alles wird zur Signatur des melancholischen Gedenkens: der Wald, das Zimmer, der Schrank, die Brief, der Strauß Blumen. Und der herbstliche Wald hilft wiederum eine Analogie zwischen Natur und menschlichem Fühlen herzustellen. Alles wird zum Zeichen, dass ehemaliges Glück verloren gegangen ist. Es lebt in Zeichen fort, die aber immer weiter in die Auflösung eintreten. Und dieses Schicksal erleidet ebenfalls das Gedenken an diese Auflösung. Meine Güte, fast schon strudelgleich zieht einen das Gedicht in die Tiefen des Leidens an der Gegenwart, wovon die welken Blätter der Wälder künden.