Natur - Tradition - Hypernatur
Die Mistbiene - Eristalis tenax -, die auf den Fotos zu sehen ist, gehört nicht zu den Musikern, die auf dem Album "The Insect Musicians" von Graeme Revell zu hören sind, obwohl ihr Klang sicherlich auch erstaunliche Dimensionen eröffnet hätte. Insgesamt bilden das Insektenorchester 28 Musiker, deren Klänge quer über die Welt verteilt aufgenommen wurden. Zikaden, Grillen, Fliegen, Käfer, Mücken - eine Klangwelt, die rhythmisch und harmonisch eine Komplexität aufweist, die man nicht für möglich gehalten hätte. Dabei ist Revells Ausgangspunkt eher ein kultureller. In japanischen Gedichten spielen Insekten und ihre "Musikalität" eine große Rolle. Dort stehen sie meist symbolisch für das melancholische Ende des Sommers und beinhalten eine Sehnsucht, die in folgenden Verszeilen deutlich wird:
"With dusk begins to cry
The male of the Waiting-Insect;--
I, too, await my beloved,
and, hearing, my longing grows." (Tsurayuki Kokinshu, 905 AD; zitiert aus dem LP-Booklet)
Eine Sehnsucht wird mit dem klingenden Insekt verbunden, die wie der Klang weiter wächst. Besonders im 17. Jahrhundert entwickelte sich in Japan dann ein regelrechter Handel mit Insekten, deren Klang zu einem kultivierten gehobenen Leben dazugehörte und immer wieder in Gedichten thematisiert wurde.
Dieser kulturellen Strömung folgend, begann Revell sich für die Klänge von Insekten zu interessieren und nahm sie auf. Dabei ist erst einmal erstaunlich, über wieviele Klangquellen Insekten verfügen. So entstehen Klänge aus dem Aneinanderreiben von Körperteilen, aus dem muskulär gesteuerten Bewegungen bestimmter Membrane, aus dem Schlagen von Körperteilen gegen ein äußerliches Objekt, aus dem Ausstoß von Luft aus Körperöffnungen, aus den Vibrationen der Flügel oder anderer Körperteile und schließlich aus den Bewegungen, die aus dem Fressen oder der Fortbewegung resultieren. Und Revell erkannte: Es sind Klänge, die harmonisch und rhythmisch teils höchst komplex sind und auch von ihrem Klangumfang in Bereiche vordringen, die für das menschliche Ohr nicht mehr wahrnehmbar sind.
Schön und gut, wer jetzt den Eindruck bekommt, es gehe auf dem Album um New Age-Klänge und romantisierendes Natur-ist-toll-Gehabe, der irrt sich gewaltig. Revell schafft ein Album, das höchst zeitgemäß (nunja, es ist von 1986) und höchst modern klingt. Der Musiker bearbeitet die Insektenklänge digital und arrangiert und komponiert sie zu insgesamt 10 Stücken, die Titel wie "The sleeping sicknes", "Phobia" oder "Balinese Twilights" tragen. Des Öfteren greift er fernöstliche Musiktraditionen auf, andere Male wird man an tranceänliche Musiken von Naturvölkern erinnert. Doch immer bildet der digitale und elektronische Rahmen ein Gegengewicht, so dass in den Stücken eine permanente Spannung zwischen Natur, Technik, Tradition und Moderne hörbar wird - so gelingt es Revell, den Fokus auf eine Klangwelt zu richten, die fremd und heimisch zugleich klingt. Ja, ein großartiges Werk, denn neben aller musikalischen Großartigkeit ist Revells Ansatz durchaus eine philosophische Weltsicht eingeschrieben. Tradition und Natur sind nur noch auf dem Umwege der Technik, des Digitalen erfahrbar. Dies nun postuliert er aber nicht als Kritik, sondern als Chance. Die Hinwendung zur Natur erfolgt heutzutage über den Status quo des technisch Möglichen. Und so spannt das Album "The Insect Musicians" einen weiten Bogen zwischen verschiedenen Zeiten (die japanische Gedichttradition), verschiedenen Welten, verschiedenen Musiktraditionen und zwischen Natur und Technik.
Und er macht etwas bewusst, das ich immer wieder während meiner Streifzüge durch die Wälder erfahre: Die Natur bildet einen Fremdheitsraum, der auf allen Ebenen Sinneseindrücke vermittelt, die man so noch nicht erfahren hat.