Drei Pfifferlinge und eine Umgehungsstraße

In der Kurzgeschichte "Suchen unter Buchen" von Sebastian Brück werden Pilze in einen Kontext gestellt, der den Untergang eines Lebensmodells schildert. Und um es vorweg zu schicken: Es ist ein Lebensmodell, für das man Sympathie hat und sein Ende hinterlässt ein gewisses Gefühl von Traurigkeit, die vielleicht auch der Ich-Erzähler spürt, wenn er am Schluss der Geschichte auf die gesammelten Pilze und die drei Pfifferlinge blickt.

Und es ist gerade das Ende, das die Kurzgeschichte lesenswert macht. Bis zu dem überraschenden Wendepunkt fragt man sich bisweilen jedoch schon, ob hier Pilze und die geschilderte Pilzsuche nicht etwas missbraucht werden, um symbolisch und allegorisch auf die Suche nach einer alten Welt (die Welt der 68-er-Generation) hinzuweisen. Wenn man einmal der Hypothese folgt, dass die Pilzsuche allegorisch zu verstehen ist, dann wirken einige Stellen schon ein wenig bedeutungsvoll angeschwollen, doch erschließt sich diese Angeschwollenheit dem Leser nicht direkt.

Gut, bevor es nun allzu kryptisch wird, werde ich einige Worte über den Inhalt verlieren.

Auf der Beerdigung seiner Großmutter hat der Ich-Erzähler seinen Onkel, mit dem der Kontakt schon seit Jahren abgebrochen war, wiedergesehen. Onkel Heiner bittet seinen Neffen, ihn das nächste Wochenende zu besuchen, um wie früher Pilze sammeln zu gehen. Die Großmutter (also Onkel Heiners Mutter) habe es versprochen, dass sie in einem Buchenwald Pfifferlinge finden würden - eine Pilzart, die sich schon seit Jahren nicht mehr in den Wäldern finden lasse. Während der Pilztour nun erfährt man in Erinnerungsrückblenden und in Dialogen, wie das Leben Onkel Heiners verlaufen ist. Kurz und bündig: Er ist ein Aussteiger, der seinen Job als Volkswirt kündigte, in West-Berlin lebte, um den Reserveübungen der Bundeswehr zu entgehen, mit einem Volkswagenbully durch die Gegend fuhr, in Wäldern übernachtete und davon träumte, in die Wälder Kanadas auszuwandern. Doch seine Mutter leidet unter Alzheimer und er übernimmt ihre Pflege und wirft seine Träume über Bord. Dem Wald und den Pilzen und seiner Lebensart bleibt er treu, sodass er im Ort als Pilze-Heiner bekannt ist. Als Kind ist der Ich-Erzähler oft mit seinem Onkel in den Wäldern gewesen und dank ihm hatte er ein recht profundes Pilzwissen. Doch der Kontakt brach ab, da sich die Familie entzweite und der junge Mann wuchs in einer anderen Welt, fern den Wäldern, auf. 

Die nun in der Gegenwart stattfindende Pilztour entwickelt sich wie ein Versuch einer Reinitiation des Jungen und dient außerdem dazu, die Welt Onkel Heiners zu retten. Ja, die Pilzsuche bekommt fast mythische Züge. Die Seherin Großmutter sah den Ort der Pfifferlinge. Ein Vorbote des Glücks deutet sich an: eine Marone. Doch die lauernde Bitterkeit manifestiert sich im Fund des Gallenröhrlings. Onkel Heiners Welt bricht zusammen. Eine Umgehungsstraße wird bald durch seine Wälder gebaut. Doch er gibt nicht auf. Sie kommen in einen Buchenwald, es wird später, der Ich-Erzähler will aufgeben, doch schließlich triumphiert Onkel Heiner, der in einen Graben gekrochen ist und dort die ersehnte von der Großmutter gesehene Frucht hervorholt: drei Pfifferlinge.

Ja, ohne Zweifel, es ist eine allegorische Suche und ein allegorisches Finden. Der Fund der Pfifferlinge gibt allem einen Sinn. Die Großmutter fungiert als Figur des alten Wissens, ihre Demenz greift ihren Kern nicht an. Onkel Heiners Leben als Aussteiger und Hippie hat Recht gegen die moderne Welt. Große Themen werden hier behandelt und sie mit dem Fund von Pfifferlingen zu verbinden wirkt tatsächlich etwas unproportioniert, vielleicht deshalb der Pathos, der manchmal aus den Zeilen schimmert.

Doch der Wendepunkt ist traurig erschütternd: Der Ich-Erzähler findet auf dem Rücksitz eine im Supermarkt gekaufte und aufgerissene Pfifferlings-Box, die Pilze aus Litauen enthalten.

Das, was gerettet schien, ist unwiederbringlich verloren. Das Festhalten an den alten Glaubenssätzen ein Simulakrum, ein letztes Aufbäumen vor dem Unabwendbaren. Die 68er-Generation hat ausgedient. Der Lauf der Zeit wird Onkel Heiner nicht Recht geben, sein Waldesleben ein Irrtum? Sein Auflehnen gegen die Gesellschaft: sinnlos?

Vielleicht. Hoffnung gibt es irgendwie nicht mehr. Der Ich.-Erzähler steigt in den Zug und fährt zurück in seine Welt, die nichts mehr mit der Welt Onkel Heiners zu tun hat. Und die Demenz der Großmutter ist nichts weiter als Demenz, die keinen höheren Sinn mehr bereit hält.

Zurück bleiben die Traurigkeit, drei Pfifferlinge und eine Umgehungsstraße. 


P.S. Wenn man den Titel anklickt, kommt man zur Kurzgeschichte