Nicht nur zur Weihnachtszeit

"Schimmelpilze der Zersetzung haben sich unter der ebenso dicken wie harten Kruste der Anständigkeit eingenistet. Kolonien tödlicher Schmarotzer, die das Ende der Unbescholtenheit einer ganzen Sippe ankündigen." 

Schimmelpilze der Zersetzung

Tatsächlich ist Weihnachten erst gerade vergangen, während ich diese Zeilen schreibe. Eine dicke und harte Kruste der Anständigkeit wird von den Schimmelpilzen der Zersetzung aufgelöst. Und sie treiben ihr Werk mit aller Konsequenz voran, indem sie das Ende der Unbescholtenheit ankündigen. In den zitierten Zeilen wird deutlich, dass Pilze mit Verfall und Zersetzung assoziiert werden. Es sind Schmarotzer, die die Pfeiler unserer Zivilisation bedrohen. Nunja, nicht gerade unserer gesamten Zivilisation. Eher wird hier eine bürgerliche Fassadenweltzivilisation durch die Myzelstränge einer Schimmelwelt dem Untergang geweiht. 

Immer noch unterhaltsam ist Bölls Erzählung auch nach über 60 Jahren ihres Entstehens. Tante Milla verfällt in einen Schreikrampf, als der Weihnachtsbaum zu Lichtmess aus dem Haus geschafft werden soll. Ein unaufhörliches Schreien, das nicht beruhigt werden kann. Selbst hinzugezogene Ärzte wissen keinen Rat. Schließlich ist es der Ehemann - Onkel Franz - der auf die Idee kommt, einen neuen Weihnachtbaum aufzustellen. Und tatsächlich, Tante Milla beruhigt sich. Doch damit ist es nicht getan. Um Milla nicht wieder aufzuregen, sieht sich die Familie gezwungen, jeden Tag den Weihnachtsabend mit Spekulatius, Liedern und dem Pfarrer nachzuspielen. Dies kann nicht spurlos an den Beteiligten vorübergehen. Als erstes verabschiedet sich der Pfarrer von dem allabendlichen Ritual und muss, um das Seelenheil Tante Milla aufrechtzuerhalten, durch einen pensionierten Prälaten aus der Nachbarschaft ersetzt werden. Doch auch die Kinder der Familie rebellieren bald, bis man auf die Idee kommt, sie durch arbeitslose Schauspieler zu ersetzen. Zu allem schlagen Zwerge als Christbaumschmuck auf Glöckchen und ein Engel auf der Baumspitze lässt die durch ein Tonband produzierten Worte: "Frieden.. Frieden.. Frieden" hören. Tante Milla ist glücklich, nur die Familie verfällt immer weiter. Schließlich wandert eine Tochter mit ihrem Mann nach Afrika aus, ein Sohn wird Kommunist, der andere geht in ein Kloster. Und der Ehemann? Er geht fremd und wird schließlich lebensmüde. Die besonder Pointe der Geschichte: Tante Milla bleibt glücklich und plaudert jeden Weihnachtsabend angeregt mit dem pensionierten Prälaten, der sich die Spekulatius schmecken lässt,

Ich habe es ja schon immer gewusst. Hinter den Fassaden unserer Bürgerlichkeit wandeln die Schrecken des Scheins und die Brutalität der "Frieden"-grölenden Engel. In der Erzählung Bölls ist es nun so, dass der Schein so derart ins Extreme gesteigert wird, dass selbst die Anständigkeit an ihr zerbricht. Schwer zu schlucken war "Nicht nur zur Weihnachtszeit" für die anständigen Zeitgenossen Bölls. Als "Verunglimpfung der deutschen Gemütlichkeit" wurde sie bezeichnet. Tja, wenn "O Tannenbaum" und "Stille Nacht" zur Qual werden, dann haben die Schimmelpilze ganze Arbeit geleistet. Ich muss zugeben, dieser auflösende Charakter der mykologischen Welt findet meine uneingeschränkte Zustimmung.