Als Einleitung

Eigentlich sollten auch hier literarische Ergüsse und Rezensionen, Impressionen und Expressionen Eingang finden, die irgendwie auch mit der Welt der Pilze zu tun haben. Doch literarisch ist dieses Gebiet - so wie es aussieht - stiefmütterlich vernachlässigt worden. Als Beispiel Gedichte. Pilze kommen eigentlich in ihnen nicht vor. Es sei denn in der Form: 


Im Herbstlaub in der Herbsteszeit

Da macht sich jung und alt bereit

zu pflücken prächtige Maronen

und sich mit Steinis zu belohnen.


Nein, darum soll es hier nicht gehen. Also, schauen wir mal, ob "rotten" - der Verfall - mehr zu bieten hat.

 

Sergeij Antoff - Ein Neuanfang

(22.01.2019)

  

 „Sieht nicht gut aus. Ich würde fast wetten, dass es der Hausschwamm ist.“

 Zusammen standen sie im Kellerraum seines erst vor Kurzem gekauften alten Bauernhauses. Er wusste, dass das Wort „Hausschwamm“ nichts Gutes bedeutete. Etwas eingeschüchtert und benommen sah er den Mann von der Seite aus an, dann wendete sein Blick sich wieder der Stelle zu, die er letzte Woche in seinen Kellerräumen entdeckt hatte. Dünne Fäden hatten das Mauerwerk durchbrochen und krochen nun an diesem Richtung Fenster entlang. Er meinte, dass sie in den letzten sieben Tagen schon weiter vorangekommen und an Dicke gewonnen hätten.

 „Diese Fäden sind sogenannte Mycenalstränge, mit denen der Pilz neue Futterquellen sucht.“

 „Aber hier ist doch nur Mauerwerk“, entfuhr es ihm in der Hoffnung, der Mann würde sich irren. 

 „Ja“, und man merkte seiner Stimme an, dass er sich dabei wohlfühlte, in belehrender Stimme auf sein Gegenüber einzureden. „Deshalb wird der Hausschwamm – übrigens Serpyla lacrymans mit wissenschaftlichem Namen – so gefürchtet. Seine Pilzfäden haben tatsächlich die Fähigkeit, Mauern zu durchdringen, um an anderes verbautes Holz heranzukommen. Und einmal gewachsen, kann er sogar trockene Stellen befallen. Hier zumindest kann ich nichts Feuchtes feststellen. Sieht nicht gut aus. Welcher Raum befindet sich über uns?“ „Das Wohnzimmer“, antwortete er, während er fühlte, dass er immer bleicher wurde. Im elektrischen Licht des Kellerraumes fiel das jedoch nicht auf. 

 „Als erstes müsste man herausbekommen, wo der eigentliche ursächliche Befall begonnen hat. Ich könnte mir vorstellen, dass der Ursprung hier direkt über uns ist. Hat das Wohnzimmer einen Holzfußboden?“ „Ja“, und zwischen die zwei Buchstaben hatten sich leichte zitternde Wellen gelegt. „Nun, mit dem muss mal angefangen werden. Wenn der Herd des Befalls geklärt ist, muss ein Sanierungsplan erstellt werden. Wie aufwendig das alles wird, hängt von dem tatsächlichen Befall ab. Aber mit dem Hausschwamm ist nicht zu spaßen. Hier im Keller muss auf jeden Fall schon einmal das gesamte Mauerwerk abgetragen werden. Na, und wenn dann oben noch tragende Balken befallen sind, dann denken Sie schon einmal über einen Gesamtabriss nach. Wann haben Sie das Haus eigentlich gekauft?“

 Die Worte des Mannes hatten so auf ihn eingeprasselt, dass er seine letzte Frage nur undeutlich und wie von Ferne her wahrnahm. Es schien ihm, dass nicht mehr er, sondern irgendetwas Mechanisches die Antwort gab. „Vor einem Monat.“

 „Setzen Sie sich für alle Fälle mit einem Anwalt in Verbindung. Mit etwas Glück, können Sie vielleicht noch den Kauf rückgängig machen oder zumindest die Kosten für die Sanierung einfordern. Doch machen Sie sich nicht zu viele Hoffnungen. Falls die Sache vor Gericht kommt, kann sich das über Monate, wenn nicht gar Jahre hinziehen.“

 Undeutlich kam es ihm in den Sinn, nach den ungefähren möglichen Kosten zu fragen, doch er wollte so schnell wie möglich aus diesem Kellerraum heraus und diesen Mann neben sich loswerden. Eigentlich war er den Tränen nahe. Er riss sich jedoch zusammen und fragte noch, wann die genaue Diagnose in Angriff genommen würde. „Ich komme nächsten Mittwoch wieder vorbei, dann gehen wirs an.“ Er bedankte sich und drängte zur Tür, die er fast aufriss und, zur Seite tretend, den Mann vorbeiließ, der mit behäbigen Schritten die Treppe hinaufging. „Nichts für ungut; also dann, bis nächsten Mittwoch. Und nehmen Sie sichs nicht so zu Herzen. Sie sind nicht der Einzige, dem so etwas passiert.“ 

 Mit diesen Worten ging er den Weg durch den Vorgarten zu seinem Auto. Unschlüssig starrte er ihm hinterher. Seine Gedanken purzelten von einer Ecke seines Gehirns in die andere und fanden keinen ruhigen Platz, an dem sie sich zurückziehen konnten. Er schloss die Tür und lehnte sich gegen sie. Am anderen Ende des Flurs befand sich die Tür zum Wohnzimmer, die weit offen stand. Die Stimme seiner Frau schwabbte herüber. Dann ein plötzlich anschwellendes Lachen von Lucy, ihrer zweijährigen gemeinsamen Tochter. Er gab sich einen Ruck und ging über den Flur zum Wohnzimmer. Beim Näherkommen schoben sich zuerst die Beine seiner Frau in sein Blickfeld, dann die Beine seiner Tochter, die mit dem Bauch nach unten auf ihrer Mutter lag. Sie spielten. Worte wurden durch Kitzeln hervorgerufenes Lachen abgelöst. Ihr Tollen stoppte, als sie ihn im Türrahmen sahen. Mit einem Glucksen löste sich Lucy aus dem Beingewirr und rannte laut jauchzend auf ihn zu und umarmte das, was sie zu fassen bekam, seine Beine. 

 „Wie ist es gelaufen? Was hat er gesagt“, fragte seine Frau. „Alles gut. Wäre nichts Schlimmes. Nächsten Mittwoch kommt er nochmal, um sagen zu können, was es ist. Würde wohl aber nur eine Lappalie sein.“ 

 „Siehst du, das habe ich dir doch gesagt. Du machst dir zu viele Sorgen. Komm her, mein Schnuzelbär!“

 Sie hatte ihre Arme geöffnet und wartete. Ihr Kleid war durch das Tollen mit Lucy nach oben geschoben, und er sah ihre schön geformten Oberschenkel. Er merkte, wie sich eine Schweißperle auf seiner Stirn bildete und wusste, dass er einbrechen würde, wenn er sich nun neben seine Frau setzen und sie umarmen würde..

 „Ich mache noch einen kleinen Spaziergang. Das Herbstlaub ist schön. Ich bin bald wieder da.“ Fast hektisch drehte er sich um, löste Lucy von seinen Beinen und ging zur Haustür. Noch schnell griff er zu seiner Jacke und einem langen grünen Schal, den er sich um den Hals legte.

 Draußen war es kühl und langsam spürte er, wie auch seine Gedanken abkühlten. Er schlug den Weg zum Wald ein, den er seit einem Jahr, seit dem Zeitpunkt, an dem sie in das Dorf gezogen waren, regelmäßig aufsuchte. Wenn er überlegte, war dieser Wald sogar letzten Endes ausschlaggebend für ihn gewesen, das alte Bauernhaus zu kaufen. In der Stadt musste er das Auto benutzen und für mindestens eine halbe Stunde fahren, um in der Natur zu sein. Hier lag sie vor der Haustür. Wie zum Hohn säuselten die Blätter der ersten Bäume, die er hinter sich ließ. Ihm, ihm musste das passieren. Seit Jahren schon war er begeisterter Pilzsammler – zuerst von Speisepilzen, dann sog ihn der Mykos immer tiefer in seinen Bann. Bald schon kaufte er sich ein Mikroskop, um auch die schwer bestimmbaren Arten zu entschlüsseln. Und er, ja, er hatte nicht bemerkt, dass ein Pilz – der Hausschwamm – dabei war, sein Haus zu zerstören, während er mit seiner Frau Kredite aufnahm, um sich ihren Traum von einem Leben im Grünen zu verwirklichen. Eigentlich wusste er, dass dieser Traum nur sein eigener gewesen war. Seine Frau freute sich über seinen ansteckenden Enthusiasmus, hatte im Grunde genommen aber nicht so sehr das Bedürfnis, die Stadt zu verlassen. Er dachte, dass ihr wegen Lucy die Idee zumindest nicht unangenehm war. Ohne ihn jedoch würde sie sicherlich weiterhin in ihrer Stadtwohnung leben, sich mit Freunden treffen und glücklich sein. Hier war sie es auch. 

 Er lehnte sich gegen einen verrottenden Baumstumpf und starrte vor sich hin. Wie eine Krallenhand schob sich zwischen dem Laub ein kleiner Korallenpilz hervor, und nicht weit von ihm leuchteten grüngelbe Schwefelköpfe an einem absterbenden Stamm. Serpyla lacrymans – sogar den lateinischen Artnamen des Hausschwamms kannte er, noch bevor ihn der Mann ausgesprochen hatte. Von der Lebensweise dieses Pilzes hatte er jedoch nichts gewusst.

 Zwanzig Jahre trennten ihn und seine Frau. Er ging auf die 50 zu. Vor drei Jahren hatte er sie auf der Party eines Freundes kennengelernt. Er hatte nicht geahnt, dass er noch einmal solche Leidenschaft spüren könnte. Als die Beziehung immer enger wurde, wurde ihm etwas bange bei dem Gedanken, dass sie ihr Leben mit einem Mann verbringen müsste, der ihr Vater sein könnte. Irgendwie meinte er, ihr junges Leben zu stehlen. Doch mit Lucys Geburt drängte er diese Gedanken in den Hintergrund. Seine Frau schien glücklich. Er war glücklich. Und dann fand er diese Anzeige für ein altes Bauernhaus auf dem Lande. Elektrisiert war er – seiner Frau überließ er nur die Rolle der stillen Zustimmerin, der Bewunderin seines welterfahrenen, studierten Enthusiasmus'. Im Laub schien sich die Krallenhand zu bewegen und auf ihn zuzukriechen. Auch die Schwefelköpfe hoben sich greller von ihrem Baumopfer ab.

 Bankrott – dieses Wort schob sich vor ihn und tänzelte mit den Bewegungen der schon gelblich gewordenen Blättern an den Ästen. 

 Langsam stand er auf und begann, das Wort „lacrymans“ auszusprechen, immer schneller und undeutlicher kam es über seine Lippen, bis er alles in sich zum Schweigen gebracht hatte. Er machte sich auf den Rückweg.

 Im Flur stehend, hörte er Geräusche aus dem Wohnzimmer. Lucy spielte wohl mit ihren Legosteinen. Sie hatte ihn nicht gehört und auch seine Frau schien sein Eintreten nicht bemerkt zu haben. Sie saß mit dem Rücken zur Tür am Esstisch und schrieb etwas an ihrem Laptop, wahrscheinlich eine E-Mail. Hinter dem Tisch hockte Lucy versunken zwischen ihren Spielsachen. Behutsam, jegliches Geräusch vermeidend, näherte er sich. Sein Herz schlug schneller und kalte Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn und fielen mit platschenden Geräuschen auf das Holzparkett. Neue Nahrung für den Hausschwamm, dachte er kurz. Das Klopfen seines Herzens prallte an die Wohnzimmerwände und kam mit polterndem Echo zu ihm zurück. Doch seine Frau bemerkte ihn immer noch nicht. Schließlich nahm er den langen grünen Schal, formte eine Schlinge und warf sie ihr um den Hals. Mit aller Kraft zog er die freien Enden zusammen und sah, wie der Hals zusammengedrückt wurde und langsam seine Farbe verlor. Zu überraschend kam der Angriff für sie. Ein kurzes Erheben der Arme, ein Winden des Körpers, dann war es vorbei und durch den wollenen Stoff des Schals hindurch wusste er, dass seine Frau tot war. Er meinte, dass in seinem Inneren sich ein Schreien und Kreischen erhoben hätte, das nicht enden wollte. Er blickte über den Esstisch hinweg zu Lucy. Sie stand vor ihm, mit offenem Mund und hervorquellenden Augen. Ihr Körper zitterte und das Kreischen in ihm kroch von unten hinauf in die letzten Windungen seines Körpers. Er merkte, wie ihm schwarz vor den Augen wurde. Doch das Kreischen und Schreien ebbte nicht ab. 

Sergeij Antoff - Das Leuchten im Wald

(14.01.2019)


 Die Asphaltstraße hatte aufgehört und die beginnende Schotterpiste war zu beiden Seiten von Bäumen und Sträuchern gesäumt. Er parkte seinen Wagen an einer Stelle, an der die Bäume nicht ganz an den Weg heranreichten und als Parkbucht benutzt werden konnte. Eigentlich glaubte er nicht, dass zu dieser Zeit jemand die Schotterpiste entlang kommen würde, weshalb er auch mitten auf ihr hätte stehen bleiben können. Doch hier parkte er immer, wenn er in den Wald hinein ging, um Pilze zu sammeln. Er schaltete den Motor aus und bemerkte, dass im Haus, das links von ihm lag, in einem Fenster Licht anging. Die Hunde hatten angeschlagen und bellten in die Nacht hinein, was die Bewohner des Hauses geweckt haben musste. Er wartete. Eine menschliche Silhouette nahm er im Fensterrahmen wahr, die in die Nacht blickte. Eigentlich dürfte sie seinen Wagen nicht sehen, stand er doch unter Bäumen in der Dunkelheit. Er wartete weiter. Nach kurzer Zeit verschwand der Umriss vom Fenster, und das Licht wurde ausgeschaltet. Nein, gesehen haben, dürfte die Person ihn nicht. Vorsichtig öffnete er die Tür seines Wagens und schloss sie ebenso behutsam. Die Hunde bellten weiter, so als ob sie Panik in der nächtlichen Stunde ergriffen hätte. Doch das Licht im Fenster schaltete sich nicht wieder ein.

 Auf den ersten Metern wollte er die Taschenlampe, die er im Wald brauchen würde, nicht einschalten. Vielleicht stand der menschliche Umriss weiterhin am Fenster und starrte in die Nacht hinaus, um Verdächtiges zu erspähen. Begleitet vom nah erscheinenden Bellen, tastete er sich langsam vorwärts. Er wusste, dass der erste Teil des Weges wie am Lineal gezogen geradeaus führte, und vor ihm sah er in einiger Entfernung ein etwas helleres Stückchen Dunkelheit, was den Beginn eines Feldes markierte. Von dort musste er nach links abbiegen und eine Weile dem Feldrand folgen, bis er in das eigentliche Waldgebiet eintreten konnte. Das Bellen der Hunde ebbte langsam ab und beruhigte sich schließlich völlig. Er schaltete die Taschenlampe an, und vor ihm sah er den mit einigen Schlaglöchern versehenen Weg. Links und rechts tauchten Bäume und Sträucher in den Schein und warfen verzerrte Schatten, die seinem nun schnelleren Schritt folgten. Es geht, sagte er zu sich, doch in der Stille klang seine Stimme losgelöst und schien Teil eines Schattens zu sein, der sich von einem Holunderbaum löste und eilig davonzog. Was, wenn er deine Stimme mit sich nähme, dachte er und lächelte über diesen mystischen Gedanken. Er horchte in die Stille hinein, die seltsam angefüllt war. Der Wind strich durch die Blätter über ihm, und ab und zu hörte er durch den Klang seiner knirschenden Schritte hindurch ein leises Knacken von Ästen und ein Rascheln im Laub, das bereits begonnen hatte, von den Bäumen zu fallen. Leichtes Schaudern überfiel ihn und er versuchte, sich auf seinen Atem und seine Schritte zu konzentrieren. Mittlerweile hatte er den parallel zum Feld entlang führenden Weg erreicht – in ein paar Minuten würde er die Schranke, die den Eingang zum Wald markierte, passieren.

 Noch vor einer Woche war das Feld mit hohen Maispflanzen bewachsen. Nun war es abgeerntet und im Schein des Taschenlampenlichtes wirkten die abgeschnittenen Halme wie dünne Knochen, die der Erde entwuchsen. Er schaltete kurz die Taschenlampe aus, um sich von diesem in seinem Kopf breit machenden Bild zu befreien. Atme gleichmäßig, achte auf deine Schritte, machte er sich Mut. Sein Atem beruhigte sich, doch als im erneut angeschalteten Licht ein Flattern aus der Dunkelheit auf ihn zukam, schreckte er zusammen. Nur ein Nachtfalter, sagte er sich. Möglichst schnell wollte er nun die Schranke erreichen, um noch einmal etwas Ruhe zu spüren. Tagelang hatte er den Gedanken, nachts in den Wald zu gehen, gefasst und wieder verworfen. Er wusste, dass er sich fürchten würde. Die Geräusche, die er nicht zuordnen können würde, die fremd wirkenden Bilder der Nacht - und obwohl er nicht an übernatürliche Kräfte glaubte, war er sich sicher, in der Dunkelheit des Waldes von Geistern und Gespenstern heimgesucht zu werden. Auch hatte er gelesen, dass Wildschweine in weiten Teilen nachtaktive Tiere geworden seien, um den Schüssen der Jäger zu entgehen.

 Er hatte die Schranke erreicht und setzte sich auf sie. Regelrecht gerungen hatte er mit sich. Er hatte gespürt, dass er diesen Nachtgang machen musste. Einmal in seinem Leben wollte er seinen Ängsten standhalten und etwas Außergewöhnliches tun. Zaghaft saß er auf der Eisenstange und blickte in die von Fichten umstandene Tiefe des Waldes. Ja, etwas Außergewöhnliches. Etwas Bleibendes. Etwas, dass seinem Leben eine neue Kontur, neue Umrisse verleihen konnte. Das Rauschen der Fichten im Wind war anders als das in den Laubbäumen. Düsterer, unheimlicher. Umkehren, nein, dass kommt nicht mehr in Frage. Er gab sich einen Ruck und ging in den Wald hinein. Der Weg bestand nun aus ebener festgetretener Erde, sodass er seine Schritte nur noch leise hören konnte. Erneut überfiel ihn die Unsicherheit mit aller Macht. Die Schatten der Fichtenstämme wirkten kälter als die, die noch die Laubbäume geworfen hatten. Auch die Geräusche zogen sich in den Wind zurück, der über ihm zu hören war. „Das Grauen das Grauen das Grauen“ zitierte er in seinen Gedanken – und die knöchrigen Maishalme tauchten vor seinem inneren Auge auf. 

 Den Fichtenwald musste er durchqueren, bevor er in einen größeren Laubwaldabschnitt gelang, der sein Ziel war. Er hatte sich die Stelle gemerkt, an der er den Weg verlassen musste. Es war ein Eichenstumpf, der ganz und gar mit Moos überzogen war. Dort stand er. Er atmete tief ein, blickte noch einmal zurück und leuchtete in die Dunkelheit. Die Fichten waren schon zu weit weg und nur ein krumm verwachsener Eichenstamm erschien im Lichtkegel. Wiederum raschelte es – direkt hinter dem Stumpf. Es durchzuckte ihn, doch neben seiner Angst und Furcht hatte sich ein neues Gefühl Platz verschafft, das sich immer stärker zwischen die beiden anderen Elemente schob. Gleich würde er da sein. Besser umschreiben konnte er es nicht: das dritte Element, das in ihm war und wuchs war wie eine Euphorie, ein eu pherein, ein Gut-getragen-sein. Er hatte seine Zagheit besiegt und stand kurz davor, das zu sehen, was ihn glücklich tragen, glücklich über die Tage und Nächte hinwegtragen würde.

 Er verließ den Weg und ließ den Eichenstumpf hinter sich. Die ungefähre Richtung wusste er, doch nun zur Nachtzeit war es schwerer, sich zu orientieren. Weiter links halten, sonst verpasst du ihn. Er meinte, etwas wie ein Ziehen in seinem Magen zu fühlen, doch Furcht fühlte er nicht mehr. Ein Gespanntsein, die Ankündigung einer Erfüllung. Es gab mehrere Stümpfe, die in das Taschenlampenlicht rückten. Er hatte die genaue Form desjenigen vergessen, den er suchte. Vorsichtig näherte er sich einigen, die sich aber als die falschen entpuppten. Sollte alles umsonst gewesen sein? Er schaltete das Licht aus, da er annahm, den Stumpf, den er suchte, so besser zu finden. Doch hier nun war nichts weiter als undurchdringliche Dunkelheit. Hatte er sich in der Stelle geirrt? Nein, sagte er sich, er hatte sie sich gut eingeprägt und im wieder neu aufflackernden Licht sah er eine Form, die seinem gesuchten Stumpf ähnelte. Wieder machte er das Licht aus. Nichts war zu merken. Langsam und vorsichtig ging er näher und bemerkte, wie konsolenartig Pilze ihre Hütchen vom Baumrest wegspreizten. Er war es. Den Ort, den er sich zu Hause ganz anders vorgestellt hatte. Er hatte gedacht, das ganze Glück der Erde würde über ihn einbrechen. In der von neuem sich ausdehnenden Schwärze der Nacht sah er immer noch nichts. Kein Leuchten, das, was er erwartet hatte. Er war direkt neben dem Stumpf angekommen, beleuchtete ihn von allen Seiten. Ja, er ist es. Wieder schaltete er die Taschenlampe aus, rückte sein Gesicht fast in das Holz hinein, das den modrigen Geruch von verfaultem Holz trug. Er befühlte die Hüte der Pilze und strich mit den Fingern über sie; dann sank er enttäuscht auf den Waldboden und lehnte sich gegen den Stumpf. Die Pilze waren herbe Zwergknäuerlinge, die er vor einigen Tagen an diesem Ort gefunden hatte. Zuhause hatte er Informationen zu diesem Pilz gesucht, da sie einfach schön ausgesehen hatten. Was er las, verschlug ihm die Sprache: Das Myzel des Pilzes hätte die Kraft, in der Dunkelheit zu leuchten und manchmal würde man Stämme finden, die im Dunklen geradezu glühen sollten. Biologen nannten dieses Phänomen Biolumineszens. Das Bild des glühenden Holzes, das abgestorben in der dunklen Nacht lag, ließ ihn nicht mehr los. Seine täglichen Pflichten erledigte er nachlässig und lustlos, während das Glühen bald von seinem ganzen Körper und Geist Besitz ergriffen hatte. Wenn er es zu sehen bekäme, würde nichts mehr beim Alten bleiben, ein Riss würde all das hinwegfegen, das sich über Jahre hinweg in ihm angesammelt hatte. 

 Nun saß er gegen den Eichenstumpf gelehnt und starrte vor sich in die undurchdringliche Schwärze der Nacht hinein. Wieder hörte er den Wind in den Wipfeln der Bäume, dessen Anwesenheit ihn für Minuten verlassen hatte. Das Ziehen im Bauch war verschwunden; stattdessen kroch eine Traurigkeit in ihn hinein. Oder war es der Wind, der sie mit sanften Brisen zu ihm hinübertrug? Noch einmal befühlte er das Holz des Stumpfes, strich sachte über die Pilze, dann stand er auf und machte sich auf den Rückweg. Wieder vergaß er den Wind, achtete weder auf die weiterhin flatternden Schatten, noch auf das Rascheln und Knacken um ihn herum. Die Traurigkeit, nun gepaart mit einer größer werdenden Leere übertönte alles. Der Weg fiel ihm leicht. Schon hatte er die Schranke passiert und ging an den abgestutzten Maishalmen entlang. Dann bog er nach rechts in den dunkleren kleinen Waldabschnitt, an dessen Anfang er sein Auto geparkt hatte. Die Hunde begannen von neuem zu bellen, sie mussten seine Schritte durch die Nacht gehört haben. Einige Meter vom Auto entfernt, sah er, wie im Fenster des nahegelegenen Hauses Licht gemacht wurde. Während er leise die Autotüre aufschloss, hörte er, wie sich ein Fenster öffnete. Vorsichtig drehte er sich dem Geräusch zu und nahm im Fensterrahmen eine gegen das Licht sich dunkel absetzende Gestalt wahr. Plötzlich zuckte ein weiteres Licht vom Fenster aus in die Dunkelheit hinein auf ihn zu, gefolgt von dem Lärmen eines Schusses, das in den Wald drang. 

 Langsam sank er nieder. Beim Schließen der Augen meinte er, in das zuckende Leuchten einzugehen. 


.--------------------------

Gedichte

Gottfried Benn

Stefan George

Johann Wolfgang von Goethe

Durs Grünbein

Hermann Hesse

Erich Kästner

Álvaro Mutis

Friedrich Nietzsche

Rainer Maria Rilke

Rainer Maria Rilke

José Asunción Silva

Musik

Björk 

Les Claypool

Die tödliche Doris

The Fall

Graeme Revell

Witthüser & Westrupp

Erzählungen

Sergeij Antoff

Sergeij Antoff

Heinrich Böll

Sebastian Brück


Das Leuchten im Wald

Ein Neuanfang

Nicht nur zur Weihnachtszeit

Suchen unter Buchen