Singe Stein!
Einige Rätsel gibt der Stein aus dem Knechtstedener Forst auf, obwohl er, so wie er dasteht, eingentlich keine Geheimnisse zu hüten scheint. Doch verschiedene Elemente fügen sich am Ende doch zu einer Rätselhaftigkeit, die wohl nicht entschlüsselt werden kann. Erst einmal sind die urzeitlichen Dimensionen des Steines zu nennen. Wahrhaft mythisch bildet er die Form eines urzeitlichen Widschweines oder doch eher eines urzeitlichen Wisents nach, und man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, es hier mit einem Fetischobjekt zu tun zu haben, das mit kosmischen Kräften durchwirkt ist. Assoziativ musste ich an die Fetische der Zuni-Kultur im Südwesten der USA denken. Dort gibt es steinerne Tierdarstellungen, die magische Kräfte besitzen. Die Eigenschaften des Tieres werden auf den Fetischstein übertragen und jene gehen auf den Besitzer des Steins über. Mut, Weisheit, Stärke, Hellsichtigkeit, Schläue usw. können so erworben werden. Auch hier im Knechtstedener Wald spürt man beim Anblick des Stein eine gewisse Kraft, die sich meiner leider nicht bemächtigt hat. Eine weitere Assoziation wären sicherlich die steinzeitlichen Höhlenmalereien, die ja durchaus auch magische Bedeutungen gehabt haben.
Nun, um das mögliche Bedeutungsspektrums des Steins herunterzubrechen, hat man einen bronzehaften Eberkopf an der Kopfseite befestigt. Ja, er stört wirklich. Als ob man den Spaziergängern nicht genug Phantasie zugetraut hätte, um seine spezielle Form zu erkennen, verunstaltet er perfekt die modellierte magische Ausdruckskraft. Doch nun kommt das zweite Element, das die Rätselhaftigkeit des Steins ausmacht.
Beim ersten Mal, als ich den Stein sah, war der Boden um ihn herum recht feucht und matschig, und in ihm konnte man unzählige Spuren von Wildschweinen (sic!) erkennen. Zumindest bilde ich mir ein, dass es die Spuren von Wildschweinen waren. Es stellt sich nun die Frage nach dem Huhn und dem Ei. Ist die Stelle im Wald, auf der der Stein steht, ein Ort, an dem sich schon seit langem Wildschweine aufhalten und hat man deshalb, ihnen huldigend, das Denkmal errichtet? Oder halten sich die Tiere erst nach seiner Errichtung dort auf, dankbar, dass ihnen so viel Ehre zuteil wird? Lösen kann man diese Frage nicht mehr, nur festhalten, dass neben den Spuren auch gegrabene Löchern an Kiefern zu sehen waren, die auf Grabspuren der Wildschweine schließen lassen.
Jetzt aber zum dritten und letzten Element der Rätselhaftigkeit: die Inschrift. "Dam Franz Singe Stein" ist zu lesen, und verschiedene Deutungsmöglichkeiten eröffnen sich. Die erste Möglichkeit: ein eingravierter Name. Die Person hieße dann: Dam Franz Singe Stein. Ein komischer Name. Um bei der Namenshypothese zu bleiben, könnte man aus einem Namen zwei machen: Dam Singe und Franz Stein. Die Möglichkeit eines Dam Franz und eines Singe Stein halte ich dann doch für zu abwegig. Doch ich gehe von folgender Theorie aus: Dam Franz ist der gemeinte Name und die darunter befindlichen Worte müssen als Aufforderung an den Stein gelesen werden. "Singe Stein!" Es ist eine Lesart, die der kraftvollen Magie des Ortes Rechnung trägt. Die Worte Eichendorffs klingen an:
Schläft ein Lied in allen Dingen
die da träumen fort und fort
und die Welt hebt an zu singen
triffst du nur das Zauberwort.
Das Zauberwort ist dem Stein sozusagen eingeschrieben und sein Lied ist kraftvoll, archaisch und magisch. Vielleicht muss man länger in seiner Anwesenheit verweilen und sich seiner Präsenz ausliefern. Mir gegenüber blieb er jedenfalls stumm. ,