Zäh und faltig und irgendwie schön

Der deutsche Artname gallertfleischige Fältling drückt eigentlich das Äußere des Pilzes perfekt aus. Gallertfleischig zäh sind seine Fruchtkörper, auf der Unterseite sind sie faltenförmig, manchmal gar labyrinthisch gefurcht, und das lateinische Epitheton "tremellosus" spiegelt den zittrigen Charakter wider, wenn man sich einmal den Spaß erlaubt, einen etwas vorstehenden Vertreter der Art mit dem Finger nach unten zu drücken und ihn dann loslässt: Das gallertartige Fleisch vibriert wie eine lahme Aufziehfeder. Was eigentlich nur noch fehlt, ist seine etwas striegelige Oberfläche, was man auf den Fotos gut erkennen kann. Häufig ist er, und in Deutschland gibt es eigentlich keinen Flecken, an dem er sich nicht an Laubholzstümpfen oder -ästen sehen lässt. Das ganze Jahr über kann man ihn finden, obwohl seine Haupterscheinungszeit der Herbst ist.

Doch betrachten wir die Fruchtkörper etwas genauer. Besonders auf den Fotos der rechten Seite kann man es gut erkennen, dass der gallertfleischige Fältling eigentlich das Hörorgan unsere Baumstümpfe ist. Eine Öffnung bietet sich dem Betrachter dar, die direkt in die Tiefe des Holzes reicht. Die Assoziation "Ohr" ist in der Pilzwelt nicht allzuweit hergeholt: Die mit dem Hörorgan assoziierten Arten bilden eine illustre Runde: Judasohren, Öhrlinge, Eselsohren, Ohrlöffelstachelinge, Ohrlappenpilze, Ohrlöffelmuschelinge, Schweinsohren, ohrförmige Seitlinge, Silberohren, ohrförmige Leimflechten, Ohrenmorcheln, Hasenohren - all sie tummeln sich in den mykologischen Gefilden.

Und ich bin sicher: Hätte der Erstbeschreiber von Merulius tremellosus meine Pilze als Vorbild gehabt, sie hätten im Deutschen einen anderen Namen erhalten: Ohrenfältling, ohrförmiger Labyrinthpilz, Laubholzhörpilz, vielöhriger Zitterpilz usw. Tja, ich finde diese Assoziationen weit treffender, aber mich fragt ja keiner.

So, nach dem kurzen Jammerintermezzo wenden wir uns der Frage zu, was er denn nun hört. Wenden wir uns dazu erst einmal dem verwitternden und sich auflösenden Baumstumpf zu, an dem die Ohren gebildet wurden. Ich bin nicht sicher, aber die Zeit, die ein Baumstumpf für seine endgültige Verwitterung und Auslöschung braucht, misst sich wahrscheinlich in Jahrzehnten. Stellt euch diese Zeitspanne vor und denkt daran, dass Baumstümpfe keine Beine haben, um sich fortzubewegen. Ein wahrhaft jammervolles Dasein. Die Ausbildung der Ohren zeitigt nun den Effekt, diese Jahrzehnte in einigen Zeitabschnitten - der Wachstumszeit des gallertartigen Fältlings - etwas abwechslungsreicher zu gestalten. Und was nimmt der Baumstumpf nicht alles wahr: Vögel, Insekten, das Knacken der Äste , den Wind, den Aufprall der Regentropfen. Ein Kaleidoskop von akustischen Welten, die so in ihn dringen kann.

Und Merulius tremellosus ist sein Organ. Ein Drang - ja ein unstillbares Verlangen -  nach sinnlichen Eindrücken offenbaren uns die Fotos. Chaotisch ineinandergedrängt streben die Fruchtkörper in ein Außen. Eine gedrängte Neugierde offenbart sich, um die ich den Baumstumpf beneide.