Der Brösel wurde Licht
Um den Pilz, der auf dem Foto zu sehen ist, wird es in diesem Beitrag nicht gehen. Trotzdem finde ich passt zumindest die lichtvolle Erscheinung und der bröseliger Charakter des Flaschenstäublings - Lycoperdon perlatum - ganz gut. Denn Thema werden der Brösel und das Licht - und natürlich die Pilze, im Besonderen der Fliegenpilz, sein.
Witthüser & Westrupp waren mir vor einer Woche noch völlig unbekannt. Auf meiner Suche nach Bezügen von Pilzen in der Kunst und Literatur lag es natürlich nahe, auch im musikalischen Bereich zu stöbern. Und was liegt näher, als sich in der Krautrockgeschichte etwas umzuschauen. Ins Auge gestochen ist mir sofort der Titel des dritten Albums des Duos Witthüser & Westrupp von 1971: Der Jesuspilz - Musik vom Evangelium. Worum es in dem Album gehen wird, verrät schon das LP-Cover: Die Erdkugel klein im unteren Bereich des Bildes in den blauen Weiten des Alls, aus der ein Fliegenpilz in die Höhe wächst und den Großteil des Covers einnimmt. Sehr naturgetreu (wenn man mal die Maße außen vorlässt) ist er getroffen. Auf der Erdkugel stehen die beiden Musiker. Einer spielt Gitarre, der andere lässt weiße Tücher wehen, auf denen Titel und die Namen des Duos stehen. Passenderweise ist es dazu noch auf dem Label Pilz erschienen, das für einige wirklich gute Krautrock-LPs Herausgeberstätte war.
Nun gut, es scheint um den Fliegenpilz zu gehen, aber auf dem Album wird er kein einziges Mal genannt. Dort deutet jedoch das Wort "Brösel" auf ihn hin. Brösel ist der Fliegenpilz - Amanita muscaria - und ist der Schamanenpilz schlechthin der nördlichen Hemisphäre. Die psychoaktive Wirkung verdankt er dem Muscimol, das durch Decarboxylierung der Ibotensäure entsteht. Der Decarboxylierungsprozess wird durch die Trocknung der Fruchtkörper in Gang gesetzt. Wer also frische Fliegenpilze isst, dem wird höchstens schlecht, und er wird sich die Frage stellen, wie solch ein Pilz es geschafft hat, in die Sphären der frühen Mysterienkulte als Fleisch der Götter einzuziehen.
Das Album heißt "Der Jesuspilz - Musik vom Evangelium und "Jesuspilz" steht in einer direkten Beziehung zum Fliegenpilz. 1971 erschien das Buch "Der Geheimkult des heiligen Pilzes" von John M. Allegro, der in ihm Jesus als Metapher für den Fliegenpilz interpretiert. Folgendes Zitat kann ich aus Gründen des genialen verschrobenen Gelehrtseins, das aus ihm spricht, nicht vorenthalten: "Jesus soll nach der Deutung der Bibel ein Fliegenpilz gewesen sein! - "Jesus", wie der "Dionysos" der verwandten bacchischen Religion, ist nichts anderes als eine Personifikation des Heiligen Pilzes, der "Beschmierte" oder Gesalbte, der "Christus", die phallische Erscheinungsweise des uralten Fruchtbarkeitsgottes Yaweh/Zeus." (Zitiert aus: Christian Rätsch, Pilze und Menschen, AT Verlag, Aarau 2010, S.131) Der Amerikaner Clark Heinrich entwickelte Allegros Ansatz weiter und interpretierte die Geburt Jesus' als eine Allegorie auf den Fliegenpilz. Und die von ihm aufgestellten Parallelen und Bezüge sind zumindest erstaunlich, so dass man erst einmal einen imaginären Hut vor seinem Einfallsreichtum ziehen muss.
Witthüser & Westrupp scheinen diese Arbeiten gekannt zu haben, denn die biblischen Geschichten werden bei ihnen neu geschrieben: am Ende ist der Fliegenpilz die erleuchtende Erlösung, die der Menschheit offenbart wurde.
Das Album beginnt in einer Lo-FI-Aufnahme wie aus einem Wohnzimmer: Gitarrenpeplänkel, Stimmen im Hintergrund, und dann taucht man hinein in die Genesis: Von Gitarrenarpeggios begleitet wird die Entstehung der Welt erzählt: "Am Anfang war nichts als Brösel". Aus dem Urbrösel wird eine Figur gemacht, die gut war. Immer psychodelischer und wabender wird die Musik. Die Figur - der Mensch - bekommt noch etwas vom Urbrösel mit und sein Leben beginnt. Brösel ist alles: der Urgrund, der Mensch, jede Emanation des Lebens. Es folgt ein Lied mit sehr folkloristischem Charakter. Ein Bauer, nachdem er seine Felder bestellt hat und unter einer Linde ruht, findet unter ihr ein Stück Brösel, das er zu sich nimmt. Wie zu erwarten wird er siddarthagleich erweckt, verkündet die Botschaft des Brösels und schart Jünger um sich. Die Freude der Welt wird durch einen Chor von hellen weichen Kinderstimmen unterstrichen.
Kein Zweifel ist mehr möglich. Der Fliegenpilz wächst, seine Lichtkraft strahlt und wer ihn kostet, wird sehen und hören, was sonst noch niemand gesehen und gehört hat.
Das Ende de LP stellt einen Zeitsprung dar. Nach 700 Jahren kehrt der Sohn des Kosmos - also Jesus - auf die Erde zurück, um zu schauen, was seine Lehren bewirkt haben. Er landet in einem Dorf in Spanien, in dem ein Fest gefeiert wird. Alle berauschen sich an dem Trank, der aus Pilzen und Kräutern gebraut wird und tanzen und schweben fröhlich im Klang der Flamencogitarren. Der Sohn des Kosmos sieht: der Brösel hat gewirkt.
Das Album lohnt sich. Zwar musikalisch nicht immer überzeugend ist die Gesamtheit famos und katapultiert einen in eine Jugendzimmerzeit, in der man gerne leben würde. Es ist die Geschichte des Fliegenpilzes und gleichzeitig die Geschichte einer eigenen psychoaktiven Pilzreise. Ein Konzeptalbum. Vom Zimmer, in dem die Pilze eingenommen werden, durchreist man in der Folge verschiedene Zeiten, Räume und Klänge. So hat mich besonders das letzte Stück beeindruckt: Musikalisch wird hier versucht, die akustischen Wahrnehmungen während der Pilzreise nachzuempfinden. In sphärischen Klängen verwabert und verzerrt sich die Stimme. Schnelle Abschnitte wechseln mit langsamen, laute mit leisen, bestimmte Klänge drängen in den Vordergrund, um dann wieder von anderen abgelöst zu werden. Und der Eindruck: alles ist schön, alles ist friedvoll, alles hat Sinn.
Auch die Dinge, die einem auf dem psychoaktiven Flug als urkomisch vorkommen, gibt es bei Witthüser und Westrupp. Wenn die Melodie von einem geblasenen Kamm ertönt, würde man am liebsten schreiend lachend auf den Boden gehen und sich den fließenden, schwebenden Linien des Kosmos anvertrauen.
Ob dies tatsächlich die Intenton der beiden Musiker war, sei dahingestellt. Missfallen hätte sie ihnen aber sicher nicht.
P.S.
Beim Klicken auf den Titel gelangt man zum Album auf Youtube.