Vogelschau
Weisse schwalben sah ich fliegen
Schwalben schnee- und silberweiss
Sah sie sich im winde wiegen
In dem winde hell und heiss.
Bunte häher sah ich hüpfen
Papagei und kolibri
Durch die wunder-bäume schlüpfen
In dem wald der Tusferi.
Grosse raben sah ich flattern
Dohlen schwarz und dunkelgrau
Nah am grunde über nattern
Im verzauberten gehau.
Schwalben seh ich wieder fliegen
Schnee- und silberweisse schar
Wie sie sich im winde wiegen
In dem winde kalt und klar
Der Wald der Tusferi
Das Gedicht "Vogelschau" stammt aus dem Gedichtzyklus "Algabal" und steht in ihm an letzter Stelle, was tatsächlich nicht unwichtig ist. Algabal nimmt Bezug auf den römischen Kaiser Marcus Aurelius Antonius, der als Verkörperung des absolut unmoralischen Menschen galt. Und gerade diese Unmoralität lässt ihn in den Augen der Zeitgenossen Georges (nun, die Zeitgenossen, die der Dekadenz anhängen) als die Vollkommenheit des Ästhetischen erscheinen. Denn George und seine Jünger wollen keine Sittenprediger sein, nein, nur Schönheit Schönheit Schönheit lassen sie als Wertmaßstab gelten. So schildert eine über den römischen Kaiser referierte Episode, dass er seine Opfer, die sterben mussten, unter Rosenblättern ersticken ließ. Tja, man muss schon sagen, der Mann hatte Stil.
Das Gedicht "Vogelschau" unter formalen Gesichtspunkten betrachtet ist nahezu vollkommen. Ein Kunstwerk ganz im Sinne Georges, der der Form ein absolutes Primat über den Inhalt zugestand. Auch hier könnte man wieder tönen: Semantik, go home! Alles an diesem Gedicht ist harmonisch abgerundet: der gleichmäßige 4-hebige Trochäus, der regelmäßige Paarreim, die abwechselnden männlichen und weiblichen Kadenzen, und die Assonanz der Reimwörter, die in jeder Strophe eine andere Klangfärbung annimmt, um am Ende in einer Durchmischung von "a"- und "i"-Lauten zu enden.
Die ersten drei Verse sind im Präteritum gehalten und, wenn man die Stellung des Gedichtes am Ende von "Agabal" berücksichtigt, scheint hier Marcus Aurelius Antonius eine Rückschau auf sein Leben zu halten. Doch inhaltlich erfährt man nichts. Das, was geschildert wird, sind eher Gefühlszustände, die in den Bildern der verschiedenartigsten Vögel vermittelt werden.
Und unter Berücksichtigung der letzten Strophe kann man tatsächlich von einer Rückschau auf das Leben Marc Aurels sprechen. Dass es aber gleichzeitig eine Vorschau ist, macht das Gedicht durchaus lesenswert.
In der ersten Strophe sieht das lyrische Ich die "weissen Schwalben", die fliegen, "schnee- und silberweiss", in "dem Winde hell und heiss". Ich weiß nicht, für mich klingt die Strophe trotz der suggerierten Schwüle der Umgebung distanziert und kühl, fast schon erhaben. Die Atmosphäre wird in der zweiten Strophe in ein Reich der Phantastik gewandelt. Häher hüpfen, Kolibri und Papagei schlüpfen durch die "wunder-bäume/in dem wald der Tusferi".
Ein Reich der Träume und vielleicht auch des Rausches wird angedeutet.
Die dritte Strophe nun verkündet in der Form von Dohlen, Raben und Nattern das Schauerliche und Drohende der menschlichen Existenz und beinhaltet auch eine Todesdrohung.
All das liegt in der Vergangenheit. Es scheint, dass das lyrische Ich von verschiedenen Bewusstseinzuständen spricht, die es durchlebt hat. Die letzte Strophe nun bringt die Wendung hin zur Gegenwart: "Schwalben seh ich wieder fliegen/schnee- und silberweisse Schar". Doch die Winde, in denen sie fliegen hat sich von dem Hellen und Heissen gewandelt: "wie sie sich im winde wiegen/in dem winde kalt und klar."
Ganz macht es den Eindruck, als ob das lyrische Ich aus seinem Tod heraus spricht, worauf auch die "a"-Assonaz deutet, die aus der vorhergehenden Strophe, in der die Todesboten Rabe und Dohle auftauchten, in die letzte Strophe hinübergenommen wird. Es hat sich mit den Schwalben in die Lüfte erhoben, weshalb die Winde nun kalt und klar sind.
Der Tod, wenn mein Gefühl richtig liegt, stellt kein Ende dar, denn wie kann Schönheit sterben? Schönheit wandelt sich, so auch noch im Tod des Marc Aurels. Und so ist sein Tod ja tatsächlich kein Schlusspunkt. Der Tod ist eher der Ausgangspunkt, um weitere Schönheit, z.B. in Gedichten, zu erschaffen.
In diese Richtung deutet auch der Titel "Vogelschau". Der Flug der Vögel diente frühe dazu, die Zukunft vorherzusagen. Somit deutet der Titel auf Zukünftiges hin, vielleicht auch auf das Gedicht von George selbst.
Auf meinem nächsten Waldgang hoffe ich, dass ich mich so wandele, dass ich die Bäume um mich herum als wunder-bäume wahrnehme, durch die Papageienvögel schlüpfen. In der bunten Euphorie meines Seins werde ich die Tusferi suchen, mit ihnen am Lagerfeuer sitzen und berauschende Pilze zu mir nehmen. Die Dohlen und Raben können warten.