Sonett an Orpheus I
Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung!
O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr!
Und alles schwieg. Doch selbst in der Verschweigung
ging neuer Anfang, Wink und Wandlung vor.
Tiere aus Stille drangen aus dem klaren
gelösten Wald von Lager und Genist,
und da ergab sich, daß sie nicht aus List
und nicht aus Angst in sich so leise waren,
sondern aus Hören. Brüllen, Schrei, Geröhr
schien klein in ihren Herzen. Und wo eben
kaum eine Hütte war, dies zu empfangen,
ein Unterschlupf aus dunkelstem Verlangen
mit einem Zugang dessen Pfosten beben, -
da schufst du ihnen Tempel im Gehör.
Semantik - go home!
Im Wald passiert es mir des Öfteren, dass ich auf die Klänge höre, die es in meiner Umgebung gibt. Vögelstimmen, der Wind in den Bäumen, ein Knacken von Ästen, Summen von Insekten. Und in besonderen Momenten gelingt es mir sogar, dass diese Stimmen so stark werden, dass nur noch sie in kurzen Momenten in mir sind. Ein Gewebe aus Ton ohne jegliche Bedeutung, was befreiend wirken kann. In gewissem Maße gelingt es mir dann, die semantische Ebene meines Daseins zu verlassen - diese Ebene, die die Dingen und alles um mich herum mit Bedeutungen belegt. Im Gewebe der Töne verstummt dieses Bedeuten und die Klänge bedeuten für sich selbst.
Auch davon ist in diesem Gedicht von Rilke die Rede, selbst wenn hier die Sphäre des Klanges Orpheus - der Dichter - und letzlich das Gedicht selbst ist.
Das Wirken des Singens Orpheus' wird in der ersten Strophe mit einem Baum im Ohr assoziiert. Der Baum ist sicherlich ein Symbol, das vollgesogen mit Bedeutungen ist. Im christlichen Sinne fällt mir hier der Baum der Erkenntnis ein, der zum Bedeuten dieses Sonetts wunderbar passt. Der Klang - das Singen Orpheus' - ist die Erkenntnis, die nicht mehr semantisch entschlüsselt wird, sondern rein phonetisch seine Wirkungen zeitigt. "Alles schwieg", eben auch das Bedeuten der Dinge. Trotzdem ist der Klang bis zum Bersten mit Wirkungen verbunden: "Anfang, Wink und Wandlung". Wandlung auch in dem Sinne, dass man in eine andere Wirklichkeitssphäre eintritt, wo andere Wirklichkeitsgesetze gelten. Eine Wandlung geht hier in den Tieren vor sich. Sie sind leise, aber nicht aus "List" und "Angst". Die "normale" Kausalität des Daseins wird aus den Angeln gehoben. Grund des Schweigens ist allein der Klang, der Klang ohne Bedeutung, der seine Bedeutung in sich selbst trägt. In den zwei Terzetten des Sonetts werden die Welt des Hörens - Orpheus' Reich" und die Welt des nackten Daseins gegenübergestellt. "[S]ondern aus Hören" leitet das erste Terzett ein. Die darauffolgenden Atribute der Klangwelt des Tierseins - "Brüllen, Schrei, Geröhr" bilden einen abrupten Kontrast zu der "reinen Übersteigung", von der in der ersten Strophe die Rede war. Was wird nun überstiegen? Es ist das "normale" Dasein, das in den zwei Terzetten als prekär, als unbehaust oder fast nicht behaust ("kaum eine Hütte") mit bebenden Pfosten beschrieben wird. Doch das Unbehaustsein der Geschöpfe wandelt sich durch die Klänge Orpheus' in "Tempel im Gehör". Die äußere Welt hat sich zwar nicht gewandelt, ihre Wahrnehmung im Ohr der Tiere jedoch fundamental. Ein luftiger Tempel wird beschworen, um diese Wirkung bildlich zu fassen. Und diese Wandlung der Wahrnehmung wird dadurch erreicht, dass das reine Hören in eine Ebene eintritt, in denen Bedeutungszuschreibungen nicht mehr wichtig sind. Einzig Klang, einzig ein bedeutungsvoller Klang, in den einzutreten ein höchstes Glück zu versprechen scheint.
Nun, ich will nicht behaupten, dass dies mit mir in den Momenten des Hörens im Wald passiert. Aber eine Ahnung davon, meine ich doch zu spüren.