Der Hüter

Den Eingang zum Waldgebiet der Bröcke, den diese Hüterschrankenfigur bewacht, benutze ich nur gelegentlich. Und auch erst vor kurzem habe ich sie tatsächlich wahrgenommen. Irgendwie ist sie rührend. Vorstellen kann ich mir, dass eine Familie mit kleineren Kindern sie aus dem Holz geschlagen hat. Sympathisch, in etwas unbeholfen groben Zügen, strahlt sie dem Menschen entgegen, der an ihr vorbei den Wald betritt. Anstrahlen ist vielleicht zu viel gesagt, eher in sich ruhend, stoisch lächelnd, erwartet sie, was da kommen mag.

Neben der kreativen Freude, die ihre Erschaffer sicherlich gehabt haben, zeigt sie allerdings noch mehr. Wenn auch so nicht bewusst gewollt, markiert sie den Eingang in eine Welt, die noch von anderen Prinzipien regiert wird, als die wir kennen. Ein Andersraum, in den der Spaziergänger eintritt.  Der Wald war schon immer ein Raum, in dem mythische Wesen hausten. Bevölkert von Feen, Kobolden, Zwergen und ähnlichen Geschöpfen scheint er dem Zugriff des Menschen verwehrt. Bäume haben magische Wirkungskraft, was weiterhin in unseren Bräuchen um den Maibaum und Weihnachtsbaum fortwirkt. Auch ist der Wald der magische Ort, in dem Märchenfiguren wie Schneewittchen eine fundamentale Wandlung erfahren. Bei Schneewittchen ist es die Wandlung vom Mädchen zur Frau. Es ist kein Zufall, dass diese Wandlung in einem Waldraum geschieht.

Ich habe mir schon oft die Frage gestellt, warum dem so ist. Und ich glaube, dass es etwas mit den Emanationen des Lebens zu tun hat. Im Laufe seiner Kulturation sind die Lebensfromen, mit denen der Mensch konfrontiert wird, immer weniger geworden. Im Ackerbau wurde die Natur domestiziert und die Pflanzenwelt unter das ökonomische Prinzip des Nutzens gestellt. Tiere wurden genutzt und sozusagen in die Lebenssphäre des Menschen gezogen. In Dörfern und Städten wurden natürliche Lebensformen so weit begrenzt, dass sie dem menschlichen Leben und Zusammenleben nicht hinderlich wurden. Gärten entstanden, Baumalleen, Haustiere gehalten, und Mittel gefunden, plötzlichen Einbrüchen des (ungewollten, unbequemen, menschenabweisenden) Lebens Herr zu werden. Mittel gegen Ungeziefer, Schimmel, Mäuse und Ratten. Und selbst die Regungen des menschlichen Lebens wurden begrenzt, normiert. Welche Kämpfe Anderslebender hat es gegeben und wird es weiterhin geben. Wieviele Ausgrenzungen von Lebensäußerungen.

Eine Konsequenz der Normierung und Begrenzung des Lebens sind für mich die monotheistischen Religionen. Ein einfaches Mittel dem Chaos des Lebens Herr zu werden, indem man einen Urgrund, einen Urschöpfer des Ganzen setzt.

Doch ein Gefühl, dass es anders ist, hat sich erhalten, wovon auch unsere Hüterfigur zeugt. Ich will nicht sagen, dass im Wald magische Wesen hausen. Aber es hausen in ihm so vielfältige Lebensregungen, die der Mensch nicht fassen und verstehen kann. (Auch wenn vieles mittlerweile wissenschaftlich verstanden wird.) Und diese Vielfalt konnte in früheren Zeiten Angst, Ehrfurcht und Schauer hervorrufen. Es ist ein Ahnen, dass das menschliche Leben nur eine mögliche Form des Lebens ist und es dem Leben letztendlich egal ist, ob es in einer Bakterie, einem Schleimpilz, einer Ratte oder einem Menschen wirkt - ob es Arten aufbaut oder schleimig, matschig zersetzt. Und das Leben wandelt sich unaufhörlich sichtbar im Waldraum, weshalb auch Schneewittchen in ihm sich wandelt

Mir ist klar, dass unsere Wälder auch Teil eines ökonomischen menschlichen Systems sind.   

Trotzdem zeigt der kleine Hüter am Rande der Bröcke, dass ein Ahnen vorhanden ist, dass es Räume gibt, die eine Form von Andersheit bewahren.