Die Transubstantiation im Pilzreich
Den rauchblättrigen Schwefelkopf - Hypholoma capnoides - gibt es eigentlich gar nicht. Lange Zeit war ich davon überzeugt, dass er eine Legende, ein mythisches Wesen wie das Einhorn sei, und noch immer glaube ich, dass er zumindest mit dem Einhorn verwandt ist. Doch seine Mythenhaftigkeit liegt in seiner Wandlung begründet, die schon einer Transubstantiation gleichkommt. Nur wird er nicht zum Leib der Verheißung, sondern zum Leib der Bitterkeit und des Giftes.
Lange habe ich schon gehofft, ihn zu finden, und jedes Mal, wenn ich auf einem Nadelbaumstumpf gelbe Pilze erblickte, näherte ich mich in freudiger Erwartung, nur um festzustellen, dass es sein giftiger Doppelgänger, der grünblättrige Schwefelkopf - Hypholoma fasciculare - war. Unterscheiden kann man beide eigentlich ganz gut. Der grünblättrige Schwefelkopf hat immer etwas neongrüngelb Leuchtendes an sich, während dem rauchblättrigen Schwefelkopf diese Farben fehlen. Sollte man sich trotzdem unsicher sein, hilft eine Kostprobe: bitter ist der grünblättrige, während der rauchblättrige Schwefelkopf mild schmeckt. Nun, mit der Zeit und ungezählten Frustrationen gab ich es langsam auf, ihn zu finden. Jedes gelbe Leuchten tat ich mit einem Schulterzucken ab: Wird eh wieder der grünblättrige sein. Und dann, eines Tages, in einem Kiefernforst geschah es: Auf einem Ast auf dem Boden wuchsen zwei Schwefelköpfe und tatsächlich: nichts Neongrünes. Ich probierte einen von ihnen, und er war mild.. Noch ungläubig machte ich einige Fotos, ließ sie aber im Wald, da mit zwei kleinen Pilzen eine Pilzpfanne sich doch nicht so richtig lohnt. Jedoch merkte ich mir die Stelle, denn normalerweise wachsen rauchblättrige Schwefelköpfe büschelig mit vielen Fruchtkörpern. Darauf spekulierte ich und machte mich eine Woche später wieder in den Wald zu besagter Stelle auf. Was soll ich sagen? An der Stelle wuchsen tatsächlich einige Schwefelköpfe (zwar nicht die Masse, die ich erhofft hatte, aber immerhin). Doch als ich den ersten pflückte, fiel ich vom Glauben ab. Es waren grüngelbe Schwefelköpfe - ohne den geringsten Zweifel. Perplex schaute ich mich um. Nein, nur sie waren zu sehen. In dumpfer Anbetung fiel ich vor ihnen nieder. Eine Verwandlung, eine Transsubstantiation war geschehen. Den rauchblättrigen Schwefelkopf gibt es nicht, er ist eine kurzzeitige Erscheinung und offenbart sich denen, die reinen Herzens sind.
Letzte Woche nun fand ich die rauchblättrigen Schwefelköpfe, die auf den Fotos zu sehen sind. Ich habe sie nicht eingesammelt, denn ich habe einen großen Respekt vor ihren metaphysischen und transphysischen Fähigkeiten entwickelt. In der nächsten Woche werde ich nach ihnen schauen. Doch ich weiß es eigentlich schon jetzt, dass ich an derselben Stelle wunderschöne bittere, grüngelbe Schwefelköpfe finden werde.