Rauhreif
Etwas aus den nebelsatten
Lüften löste sich und wuchs
über Nacht als weißer Schatten
eng um Tanne, Baum und Buchs.
Und erglänzte wie das Weiche
Weiße, das aus Wolken fällt,
und erlöste stumm in bleiche
Schönheit eine dunkle Welt.
Schweigen erlöst die Welt
"Rauhreif" von Gottfried Benn gehört zu einen seiner ersten Gedichte, und hätte er in diesem Stil weitergeschrieben, wäre er sicherlich nicht zu einem der bekanntesten deutschen Dichter des 20. Jahrhunderts geworden. Jedoch spricht mich etwas in diesen Versen an. Ich denke, es ist die Veränderung, die ein Agens auslöst, der nicht fassbar ist. Als "Etwas" wird er in dem ersten Vers benannt, dann als "weißer Schatten" in Vers drei. Dieses "Etwas" kleidete sich nachts in einen weißen Schatten und "löste sich und wuchs/[...]/eng um Tanne, Baum und Buchs". Ist das "Etwas" schon nicht benennbar wird es weiter durch die Worte in eine Unbestimmtheit überführt. Doch es geht auch gar nicht darum, Gründe für eine Veränderung zu suchen. Worum es zu gehen scheint, sind die Wirkungen, die dieses "Etwas" zeitigt: "Und erglänzte wie das Weiche/Weiße, das aus Wolken fällt,/und erlöste stumm in bleiche/Schönheit eine dunkle Welt". Es erglänzte, erschien weich und erlöste stumm in bleicher Schönheit. Es geht nicht um Worte, um ein Benennen: Das Erlösende ist stumm und bleich im Gegensatz zur dunklen Welt, die das Gedicht beenden. Und hier nun wird deutlich, dass "Rauhreif" alles andere als ein hoffnungsvolles Gedicht ist. Der Moment der erglänzenden Erlösung ist schon vorbeigegangen und von ihrem Walten wird im Präteritum berichtet. Das lyrische Ich schreibt aus der dunklen Welt heraus und erinnert ein Moment, in dem es möglich gewesen war, ihr zu entfliehen. Doch die Realität der Welt ist mit aller Macht zurückgekehrt: Sie steht als Abschluss und verneint in gewissen Maße das Erglänzen und die Weichheit, von denen vorher die Rede gewesen ist.
Doch das Versprechen an eine Erlösung schwingt trotz Allem in dem Erinnern mit. Es ist das Erinnern eines Augenblickes, in dem die Welt eine andere Erscheinung als Möglichkeit zeigt, eine Möglichkeit, die nicht bedeuten, sondern wirken will. Es ist die Magie einer Konstellation, in der man merkt, dass die mit Signigfikat angeschwollenen Zeichen aufgelöst werden können. Sie werden stumm, was eine Ruhe mit sich führt, die der dunklen Welt den Mittelfinger zeigt. Nein, tut sie natürlich nicht. Sie ist provokant gerade in ihrer Provokationslosigkeit, in ihrem Verklingen festgefügter Bedeutungen.
Elegant schafft Benn es, dieses Momentum sinnlich erfahrbar zu machen. Die Verse perlen von Enjambement zu Enjambement dahin, Alliterationen verkünden eine Harmonie, die es geben kann.
Vielleicht zeigt das Präteritum auch an, dass Erlösung immer nur in der bewussten Wachsamkeit der Sinnlichkeit liegt. Und dass sie sich auch heute in dieser dunklen Nacht ereignen kann.
P.S.
Natürlich kann man Rauhreif wissenschaftlich erklären. Doch damit könnte Benn nichts gegen die dunkle Welt ausrichten, da auch die Wissenschaft in ihr Platz findet. Es sind die poetischen Annährungen an das, was uns umgibt, die Erlösung implizieren.