Lebensgefahr am Hauptbahnhof
"Es war eine bange, grausenvolle Nacht", so lauten die Worte von Dr. Harald Othmar Lenz, der den Satansröhrling 1830 probierte und ihm ein Jahr darauf seinen jetzigen deutschen Namen gab. Und dieser grausenvolle Nachtverursacher findet sich nun in Form eines Stickers an der Tür zu einem elektrischen Betriebsraum in einer Unterführung in der Nähe des düsseldorfer Hauptbahnhofs. Es gibt andere Pilze, die dem Satansröhrling makroskopisch ähneln, doch ich gehe davon aus, dass er gemeint sein muss. Sein Name allein bringt die Assoziationsbilderflut ins Rollen und verweist auf etwas archaisch Numinöses, das selbst in der Modernität des Stadtraums anwesend ist. Neben dem Satansröhrling zeigen sich die offiziellen Warnschilder des öffentlichen Lebens. Unbefugten wird der Zutritt untersagt und auf die Lebensgefahr durch Hochspannung hingewiesen. Darüber und daneben haben sich andere Schriften eines anderen Stadtraums ausgebreitet. Aufkleber, Graffiti-Tags, ein geschminkter Smily. Worauf der Satansröhrling als erstes verweist, ist, dass andere Schwingungen an diesem Ort anwesend sind als die, die man vermuten würde. Konkret wenden wir uns der Tür zu. Sagt das Schild, dass irgendwelche Hochspannungsschaltgeräte hinter ihr zu finden sind, müssen wir uns darauf verlassen, Doch ich bezweifle, dass viele Düsseldorfer es geschafft haben, diese Tür zu öffnen. Vielleicht ist es ja das Kaninchenloch aus "Alice im Wunderland", durch die wir in andere Daseinsschichten vorrücken können. So stellt der Pilz in gewissem Maße eine Einladung dar, andere Möglichkeitsformen durchzuspielen und Mögllichkeitsoptionen bewusst zu halten. Öffnet diese Tür, und ein bunter Pilzreigen wird euch unter die Arme greifen und durch die Nächte tragen.
Gleichzeitig werden Risse in unsere Wirklichkeitswahrnehmung getrieben. Ganz offensichtlich passt der Satanspilz nicht an diesen Ort. Eine Tür, eine Unterführung, eine Straße, Motorenlärm, Stadtlärm sind die Elemente, die ihn konstituieren. Die bleiche Huthaut, die an einen Totenschädel erinnert, das Rot der Poren und des Stiels, das auf Blut hindeutet und das Gelb, das Feuerkraft symbolisiert: Ein Gemisch aus Leben und Tod, das in ihrem Zwischenraum operiert. Vielleicht lädt der Satanspilz uns an diesem Ort dazu ein, uns aufs Spiel zu setzen, was bedeutet uns und unsere Umgebung mit Fragezeichen zu überziehen und unser Denken als Neues zu wagen.
Das Creepkollektiv, von dem unser Satanspilz stammt, überzieht Düsseldorf mit den verschiedenartigsten Stickern, die jedoch fast alle ein Gefühl von Archaik vermitteln, auch ein Gefühl von Öffnung und Unabgeschlossenheit. Oft sind es Gesichter, die von Linien gezéichnet sind, und aus denen sich aus Öffnungen Lichter, Pilze und Schlangen winden. Um diese Öffnungen geht es: Satan ist hier ein Versprechen, ein Lichtgott, der neben uns existiert und dessen Existenz wahrnehmbar und annehmbar ist.
Ganz in der Nähe des Satanspilzes befindet sich das WP8, eine kleine Kneipe, die schon etwas von diesem Öffnungsversprechen offenbart: Regelmäßig verändert sie ihr Inneres, überzieht ihre Wände mit Schriften, dann mit Fotos, dann mit Bildern, die jeweils einen neuen Ort entstehen lassen.
Kommen wir noch einmal auf das eingangs genannte Zitat zurück. Grausenvoll kann die Begegnung mit dem Satanspilz schon sein. Jedoch ist er nicht lebensbedrohlich, sondern löst nach dem Essen wohl heftige Magen-Darm-Probleme aus. Aber gleichzeitig gilt er in kleinen Dosierungen als Heilpilz, der u.a. bei Leberleiden eingesetzt werden kann.
All dies passt in den zuvor beschriebenen Wirkzusammenhang. Denkgewohnheiten zu verändern ist schmerzvoll, aber letztenendes das, was Heilung verspricht.