Klaustrophobie im Tierreich

Was erst einmal wie die rituellen Zeichnungen einer halluzinogen geschauten Anderswelt erscheint, sind die Tunnelgänge der Larven der Minierfliege. In dem Namen dieses Zweiflüglers steckt schon ein markantes Merkmal seiner Lebensweise. Auch ohne ethymologische Begabungen fällt es nicht schwer, das Wort "Mine" zu erkennenn und dass die Minierflige ein gekonnter - auch wenn etwas chaotisch anmutender - Tunnelbaumeister ist, zeigen die Fotos. Nun, über das Wort "gekonnt" lässt sich sicherlich streiten, denn einen Bauplan lassen die Tunnelzeichnungen auf dem Brombeerblatt nicht vermuten. Es gibt ihn auch nicht, es sei denn das, was wir vor uns haben, stellt ein komplexes Kommunikationssystem dar, in dem jede kleinste Windung mit Bedeutung aufgeladen ist. Ich fürchte nur, dass es ein etwas mühsamer Weg sein wird, es zu entschlüsseln. Gut, wenden wir uns der Frage zu, was die kleine Larve in den Gängen tut. Die Beantwortung ist einfach: Sie frisst und scheisst. Laut Literatur sei es sogar möglich in den weißen Tunnelgängen einen schwarzen Streifen wahrzunehmen, der die Ausscheidungen der Minierfliegenlarve farblich kennzeichnet. Zwar meine ich, auf den Fotos einen etwas dunkleren mittleren Tunnelteil zu erkennen, als schwarzen Streifen würde ich das jedoch nicht bezeichnen. Leiden unsere (es sind mindestens zwei) Larven an quälender Verstopfung? Nun, an mangelnden Hunger scheinen sie jedenfalls nicht zu leiden. Faszinierend ist es, dem Wachstum dieses Tierchens in der Retrospektive zuzuschauen, auch wenn wir wahrscheinlich niemals die Chance haben werden, es jemals mit eigenen Augen zu erblicken. Ich gehe davon aus, dass es so klein ist, dass man selbst mit einer großen Lupe Schwierigkeiten hätte, es zu sehen. Aber die Tunnel zeigen das Wachstum an: Beginnen sie als dünner Faden, breiten sie sich in ihrem Fortschreiten immer weiter aus. Die Minierfliegenlarve frisst sich sozusagen rund, breit und fett, um sich schließlich zu verpuppen und als wirkliche Minierfliege entweder als Männchen Weibchen zu begatten oder als Weibchen sich begatten zu lassen und Eier in neue Laublätter zu stechen. (Ja, sie haben kleine Stacheln, die sich in die Blätter bohren können.) Dann beginnt ein neuer Lebenszyklus, sprich: Man frisst und scheisst sich durch neue Blätter hindurch. Doch dem Fresshunger sind Grenzen gesetzt, was man ebenfalls auf den Fotos nachvollziehen kann. Der mittlere Blattnerv scheint ein unüberwindbares Gebirge in der Welt der Minierfliegenlarve darzustellen. Ohne Kletterseile scheint er unüberwindbar und auch die größeren Blattnerven, die vom mittleren Blattnerv ausgehen, sind in den meisten Fällen nur am Rand passierbar. Es gibt Ausnahmen, wo wohl eine Larve allen Mut zusammennahm und auf die andere Seite gelangte. 

Bevor wir nun auf den Titel dieses Beitrags zu sprechen kommen, sei noch erwähnt, dass ich unserer Brombeerminierfliege in spe keiner Art zuordnen kann. Weltweit gibt es ungefähr 3000 verschiedene und auch in Mitteleuropa kommen noch stattliche 350 Arten vor. Ob es nun eine gibt, die sich ausschließlich auf Brombeerblätter spezialisiert hat, entzieht sich meinem Wissen, und so nennen wir die Minierfliege einfach Minierfliege. (Auf Latein: Agromyzidae) 

Wenn ich mir vorstellen wollte, dass es die Wiedergeburt gibt, dann möchte ich nicht als Agromyzidae die grüne Hölle eines Brombeerblattes bewohnen. Ein klaustrophobisches Dasein, bei dem wahrscheinlich noch nicht einmal die peingeplagten Schreie die Blattnerven überwinden. Und man muss sich diese Existenz in all ihrer Plastizität vorstellen: ein winzig kleiner Partikel Leben, der in der Mitte zwischen Oben und Unten eines Blattes sein Dasein fristet. Man kann es natürlich mal wieder ganz anders sehen: schlaraffenlandähnlich öffnet die Larve ihren Mund und schon fliegt das Fressen sozusagen in sie hinein. Auf den Menschen in einer Parallelexistenz übertragen: Eingebettet zwischen Currywurst und Pommes-Mayo frisst er sich zu seiner Auferstehung durch. Ich überlasse es dem werten Leser zu entscheiden, welches Bild das attraktivere für ihn darstellt.