Ginkgo biloba

Dieses Baumes Blatt, der von Osten

meinem Garten anvertraut,

Gibt geheimen Sinn zu kosten,

Wie's den Wissenden erbaut.


Ist es ein lebendig Wesen,

Das sich in sich selbst getrennt?

Sind es zwei, die sich erlesen,

Dass man sie als eines kennt?


Solche Fragen zu erwidern

Fand ich wohl den rechten Sinn.

Fühlst du nicht an meinen Liedern,

Dass ich eins und doppelt bin?

Die erlesene Welt

Die harmonisch ausgleichende Seite des klassischen Goethes ist eigentlich nicht so meine Sache. Auch dieses kleine "Liebesgedicht" an Marianne von Willemer macht da keine Ausnahme. Betrachtet man jedoch die Wortwahl etwas genauer kommen fast schon postmoderne Züge zum Tragen.

Zuerst aber einmal zum Blatt des Ginkgo biloba. Eingeschnitten ist es, so das es aus zwei Hälften zu bestehen scheint. Diese Form nutzt Goethe, um eine Analogie zu sich und seiner Gefühlswelt herzustellen. Und die Natur ist geradezu reich an Formen und Bildern, die zum Spiel mit der Analogie einladen. In der Pilzwelt ist es nicht anders. Um nur das prominenteste Beispiel anzuführen, sei auf die Stinkmorchel - Phallus impudicus - verwiesen. Der lateinische Name ist Programm und ich überlasse es der Phantasie des Lesers, Analogien zu bilden. Schade, dass Goethe sich ihr nicht angenommen hat: ein Gedicht über Phallus impudicus an Marianne von Willemer. Wahrscheinlich wäre er mit Schimpf und Schande aus Weimar fortgejagt worden und die Literaturgeschichte wäre um eine pikante Anekdote reicher geworden.

Das Blatt aus dem Osten "gibt geheimen Sinn zu kosten,/Wie's den Wissenden erbaut". Ein Sinn liegt in den Wesen begründet, das der "Wissende" entschlüsseln kann. Ein Grund liegt in den Wesenheiten, der entdeckt werden kann. Erkenntnistheoretisch wird nun die zweite Strophe interessant: zwei Möglichkeiten werden für das Ginkgo biloba-Blatt in Erwägung gezogen: Ist es "in sich selbst getrennt" oder sind es "zwei, die sich erlesen" haben? Die Zahl Zwei spielt schon auf Marianne von Willemer und ihre Verbindung zu Goethe an. Nungut, interessant jedoch ist nicht das biographisch im Hintergrund liegende, sondern das Wort "erlesen". Ethymologisch steckt in "lesen" die Bedeutung des Aufsammelns und kann in einen Zusammenhang mit dem Aufsammeln von Sinn gebracht werden. Und so ist schließlich Lesen eine Tätigkeit, bei der ich aus den Spuren der Schrift Sinn sammele. Dieser Sinn ist jedoch in der Schrift versteckt - hier in der Schrift des Gingko-Blattes - und somit gibt es einen Bruch zwischen dem wirklichen Sinn der Wesen und dem Sinn, der in den Zeichen liegt und aufgelesen wird. Eine Welt wird erlesen, die es so - als Wesen - nicht gibt. Und letztendlich wird auch die Zweierbeziehung erlesen, sie wird gewollt und dadurch erschaffen. Die Ideenwelt Kants schimmert hindurch, der ja letztlich auch postuliert hat, dass das Subjekt nicht zu den Wesen vordringen kann. Das "Ich" spielt in der Wirklichkeitskonstituierung eine entscheidende Rolle. Und auch in der Liebesbeziehung: Liebe wird konstruiert. 

Ein "du" wird nun in der dritten Strophe angesprochen: "Fühlst du nicht an meinen Liedern,/Dass ich eins und doppelt bin." Klar spielt er wieder auf die Durchdringung seines Lebens mit Marianne an. Doch auch hier kann man weiter gehen. Das Subjekt ist zwar eins, aber in sich gespalten und angefüllt mit einem Anderen. Dieses Andere ist vom eigentlichen Subjekt nicht mehr zu trennen. Und dies kann nun auf unterschiedliche Wirklichkeitbereiche ausgeweitet werden. Auf die Liebesbeziehung, aber auch auf eine Anwesenheit des Fremden allgemein. Der Osten, aus dem der Ginkgo-Baum ja kommt - findet sich im Garten Goethes, also findet hier eine Durchmischung des Westens mit dem Osten statt.

Zwar wird insgesamt das Subjekt nicht in Frage gestellt - es ist schließlich sein Wollen, das agiert - jedoch ist es in der letzten Strophe verwandelt. 

Ja, es sieht so aus: Goethe vollzieht schon hier den ersten Schritt zur Zerstückelung des Subjektes in der Moderne und Postmoderne. Und all das wurde durch ein kleines harmloses Blatt ausgelöst. Jetzt würde ich aber wirklich gerne wissen, welche philosophischen Abgründe er der "Phallus impudicus" abgewonnen hätte.