Ein Baumstumpf war Zeuge

Auch wenn man es auf den Fotos nicht erkennt, fand ich die Federn des Buntspechts auf einem Baumstumpf im Knechtstedener Forst in der Nähe von Dormagen/Neuss. Besonders das Foto rechts unten gefällt mir, da es etwas von einem altarähnlichen Raum eröffnet. Arrangiert habe ich nichts. Das Foto links oben zeigt im Gegensatz dazu ein eher chaotisches Arrangement, und sakrales Innehalten stellt sich bei ihm nicht ein. Das Federkleid des Buntspechts war in all seinen Schattierungen und Zuständen vorhanden: die schwarzen am Rand weiß gepunkteten Federn, manchmal etwas zerrupft, ein anderes Mal in strahlender Frische; die kleinen Federn mit den roten fedrig aufgefächerten Enden; ins Blaue hineinspielende flaumige Federn, die sich flatternd vom Wind bewegt in kurzen Ästchen gefangen hatten. Blut oder gar den dazugehörenden Körper des Vogels konnte ich nicht sehen, doch dass sich an diesem Ort ein freiwilliger Federabwurf ereignet hat, ist unwahrscheinlich. (Aber nicht ganz außer Reichweite des Möglichen, wie wir am Ende sehen werden.)

Ein Buntspecht ist hier zum Opfer geworden. Doch Opfer von wem? Gelesen habe ich, dass besonders gerne Marder und Habichte Jagd auf den Vogel machen. Wer von beiden nun als Täter in Frage kommt, ist nicht mehr zu entscheiden. Doch der Ort erweckt zumindest den Anschein, dass er der Ort der Überwältigung und des Kampfes war. Überlebt dürfte unser Buntspecht nicht haben. Gefressen wurde er dann an anderer Stelle. In gewissem Sinne stellen die Fotos einen Ort des Gedenkens dar, der schon bald vergangen sein wird. In diesem Sinne passt auch die altarähnliche Situation, die ich weiter oben erwähnt habe. Ein kurzes Schaudern, ein kurzes Verweilen, ein kurzer Gedanke. Ein Gedanke hin zu dem Leben in all seinen Äußerungen. Gewalt und Tod gehören dazu und bilden mit dem prallen Leben eine Konstellation, die in Windeseile ihre Elemente vertauscht, und was eben noch einen Körper wärmte, liegt nun ausgebreitet vor unserem Auge. Das Konzept der "Verzweiflung" von Álvaro Mutis bildet sozusagen den philosophischen Hintergrund. Der Tod ist in uns, um uns, ist Teil des Lebens und ihn anzunehmen, gewährt eine Hellsichtigkeit in die Strukturen des Lebens.

Vielleicht ist die als Resultat zu sehende Szene auch ganz anders abgelaufen. Vielleicht gibt es auch unter Buntspechten Tribunale und Gerichte, die die Buntspechtkodes unterlaufenden Artgenossen zu unvorstellbaren Folterungen verurteilen. Vielleicht hat sich unser Specht geweigert zu klopfen, da er um die tödliche Doris und ihr Lied "Wie still es im Wald ist" wusste. "Nein", dachte er sich, "diese Schrecken meines Klopfens kann ich niemandem mehr zumuten." Tja, da hat er die Rechnung ohne seine Mitbuntspechte gemacht. Vier von ihnen drängten sich um ihn, fixierten ihn, während zwei andere ihm mit aller Kraft die Federn vom Leib klopften. Oder war es gar Selbstkasteiung eines den Freuden des Lebens abschwörenden Vogels? Dafür spräche ja auch der sakrale Charakter des Ortes. 

Letztendlich spielt das aber alles keine Rolle, denn "Verzweiflung" drückt es in jedem Falle aus. "Verzweiflung", die in aller Konsequenz anzunehmen ist.