Das eiskalte Haar der Feen

Wenn ihr das nächste Mal im Winter bei Temperaturen so knapp unter dem Gefrierpunkt im Wald unterwegs seid und am Boden weiße Fetzen entdeckt, regt euch erst einmal nicht über jene Leute auf, die es nicht lassen können, ihre Taschentücher so schamlos im Wald zu hinterlassen. Denn es könnte sich um das sogenannte Haareis, das man auf den Fotos sieht, handeln.  Ich habe mich regelmäßig über weiße Fetzen in der Waldlandschaft aufgeregt und hätte sie am liebsten ihren Besitzern ob dieser Dreistheit in den Mund gestopft. Doch, zurückblickend, bin ich tatsächlich nicht mehr sicher, ob es nicht vielleicht jenes Phänomen war, das aus der Nähe betrachtet einige Geheimnisse zu hüten scheint. "Das eiskalte Haar der Feen" passt allerdings nicht so richtig zu dem zerzausten Eiswollknäuel der Fotos. Eher scheint es einer Gestalt zu gehören, die nicht besonders viel Wert auf ihr Äußeres legt oder die man gerade nach durchzechter Nacht aus dem Schlaf gerissen hat. Können Feen sich so gehen lassen? Zechen sie überhaupt nächtelang durch? Nun, vielleicht gehört die Haarpracht ja auch einem greisenhaften Kobold, dessen Haar schon weiß geworden ist, aber noch immer üppig nach allen Seiten wächst.

Belassen wir einstweilen die mythische Spekulation und wenden uns dem Phänomen als solchem zu. Leider habe ich, bevor die Fotos entstanden sind, einen Teil des Eises zusammengedrückt, da mir nicht klar war, womit ich es zu tun hatte. Beim Zusammendrücken jedoch spürt man die Eiseskälte und es besteht kein Zweifel, dass es sich tatsächlich um Eis handelt, obwohl alles drumherum die schönsten Braun- und Grüntöne des Waldbodens zeigt. Schaut man etwas genauer hin, merkt man, dass das Eis aus dem Holzast entsprungen sein muss. Dünnste Fäden steigen filigran aus ihm heraus, und die einzelnen Fäden bilden ein Eisgeflecht, das dicht, aber auch fein differenziert ist. Und das Tollste: Pilze sind für dieses Phänomen verantwortlich. Schon 1916 vermutete ein Meterologe namens Alfred Wegener, dass ein Schimmelpilz der Auslöser von Haareis sei. Die Fachwelt schenkte ihm jedoch kein Gehör und erst sehr spät (im Jahre 2008) bestätigten zwei Wissenschaftler Wegeners Vermutung. Allerdings lag dieser mit seiner Schimmelpilzvariante knapp daneben. Es sind Myzelien von sowohl Ständer- als auch Schlauchpilzen, die während ihres Stoffwechsels Gas ausstoßen, das das Wasser im Holz verdrängt. Tritt es dann an die unter dem Gefrierpunkt liegende Außenluft gefriert es, und es entsteht das, was einfach ein natürliches Spektakel genannt werden muss. Bleiben die Temperaturen unter Null, wachsen die Eisfäden immer weiter, und die erstaunlichsten Strukturen können entstehen. 

Doch es gehört schon einiges dazu, um Eishaar mit eigenen Augen sehen zu können. Alles muss stimmen: 1. Das Holz muss feucht sein 2. Das Wasser im Holz darf noch nicht gefroren sein 3. Die Außentemperatur muss unter Null sein 4. Die Luftfeuchtigkeit muss hoch sein 5. Es darf kein Schnee liegen, ansonsten entdeckt man Haareis sicherlich nicht 5. Glück muss man auch noch haben, um an der richtigen Stelle vorbeizukommen 6. Man darf kein nörgelnder Pedant sein, der, wie oben beschrieben, nur schmutzige Taschentücher in Wäldern vermutet 

Wenn all diese Voraussetzungen (einige habe ich sicherlich noch vergessen) in einer Konstellation zusammentreffen, dann bekommt man einen feengleichen Ort geschenkt, der ephemer aufscheint und in seiner Flüchtigkeit verzaubert.