Die Wälder schweigen
Die Jahreszeiten wandern durch die Wälder.
Man sieht es nicht. Man liest es nur im Blatt.
Die Jahreszeiten strolchen durch die Felder.
Man zählt die Tage. Und man zählt die Gelder.
Man sehnt sich fort aus dem Geschrei der Stadt.
Das Dächermeer schlägt ziegelrote Wellen.
Die Luft ist dick und wie aus grauem Tuch.
Man träumt von Äckern und von Pferdeställen.
Man träumt von grünen Teichen und Forellen.
Und möchte in die Stille zu Besuch.
Man flieht aus den Büros und den Fabriken.
Wohin ist gleich! Die Erde ist ja rund!
Dort, wo die Gräser wie Bekannte nicken
und wo Spinnen seidne Strümpfe stricken,
wird man gesund.
Die Seele wird vom Pflastertreten krumm.
Mit Bäumen kann man wie mit Brüdern reden
und tauscht bei ihnen seine Seele um.
Die Wälder schweigen. Doch sie sind nicht stumm.
Und wer auch kommen mag, sie trösten jeden.
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Shinrin Yoku
Der etwas abstrakt wirkende Titel dieses Beitrags kommt aus dem Japanischen und bedeutet so etwas wie "Baden in der Waldluft". Wer jetzt aber an Swimmingpools neben uralten Buchen und Eichen denkt, mit halbnackten Kellnern oder Kellnerinnen, die einem gekühlte Cocktails reichen, der irrt sich gewaltig. Das "Baden in der Waldluft" ist tatsächlich ein direkter Bezug zu Erich Kästners Gedicht "Die Wälder schweigen". Shinrin Yoku bezeichnet eine Therapieform, die in Jagan schon Teil der offiziellen Gesundheitsvorsorge geworden ist. Man taucht dabei in die Waldluft ein und versucht mit allen Sinnen den Wald in sich aufzunehmen. Für gestresste Großstadtmenschen kann das "Eintauchen" in die Waldatmosphäre durch Achtsamkeitsübungen sozusagen antrainiert werden. Denn das "Loslassen" und "Eingehen" in etwas anderes haben wir als gefühlsverkrüppelte Wesen ja schon etwas eingebüßt. Effekte, die diese Therapieform zeitigen, sind u.a. Blutdrucksenkung und Reduzierung der Stresshormone im Körper. Nunja, das hätte ich nun auch ohne Studien feststellen können: Der Wald spendet tatsächlich Ruhe, was bestimmt schon jeder einmal erfahren hat.
Kästner stellt dichotomisch die Welt der Stadt der Welt des Waldes und der Felder gegenüber. Dies tut er in einer recht nüchternen Sprache, die manchmal jedoch noch die Nachwehen des Expressionismus nachzeichnen: So, wenn "[d]as Dächermeer [... ziegelrote Wellen [schlägt]".
Aber schauen wir uns erst einmal die erste Strophe an. Dort wird die Zeitdimension der Stadt der der Wälder und Felder gegenübergestellt. Die Jahreszeiten "wandern" und "strolchen", was der Stadtmensch nur vermittelt durch die Tageszzeitung erfährt. Kein "Strolchen" für ihn, seine Zeit ist getaktet und das Sprichwort "Zeit ist Geld" klingt im vierten Vers an. Der fünfte Vers nun verbindet durch das "Sehnen" die beiden Wirklichkeitsbereiche. Der Mensch sehnt sich fort aus dem lärmenden Tosen der Stadt.
In den ersten zwei Versen der zweiten Strophe wird die Stadt beschrieben und biblische Untergangsvisionen klingen in den "ziegelroten Wellen" an. Flut droht, aber auch Erstickung ist eine Option des Untergangs. Das "Sehnen" nun wird in den drei folgenden Versen thematisiert und in diesem "Sehnen" ist schon eine andere Zeiterfahrung aufgehoben, was durch die anaphorische Struktur der Verse drei und vier verdeutlicht wird. "Man träumt von": Ja, dieses Träumen wird in den nächsten Vers getragen und ein erstes Aufatmen von der Hektik der Stadt wird erahnbar. Man möchte fort, fort vom Geschrei und hin zur Stille.
In der dritten Strophe ist es dann endlich soweit: "Man flieht aus den Büros und den Fabriken". Und diese Flucht wirft das ganze Subjektivierungs-Ich über Bord. Es gibt keine Ziele mehr, sondern man überlässt sich dem Fließen der Natur. Man geht dorthin, "wo die Gräser wie Bekannte nicken / und wo Spinnen seidne Strümpfe stricken". In den zwei letztgenannten Strophen wird auch der jambische Rhythmus unterbrochen und die alte Zeittaktung des geknechteten Stadtmenschen wird - erotisiernd aufgeladen durch die seidnen Strümpfe - außer Kraft gesetzt.
Im ersten Vers der vierten Strophe wir noch einmal das "alte" Leben beschrieben in der Form, dass in ihm die Seele "krumm" wird.
Alles mündet nun in die harmonischen Abschlussbilder: Bäume sind wie Brüder, sie bilden eine Gemeinschaft mit den Menschen. Ein Gemeinschaftsgefühl, das in der Stadt wohl nicht mehr existiert. Und jeder ist in ihrer Gemeinschaft willkommen. Keine Grenzen, die in der Stadt gezogen werden, gibt es in den Wäldern, keine Unterschiede mehr werden gemacht. Allein die Tatsache, dass man lebt, ist Empfehlung genug, in ihrer Stille willkommen zu sein.
Nun, man kann dem Gedicht Kästners sicherlich eine etwas eskapistische Haltung vorwerfen, die noch einmal Rousseaus Naturbild hervorkramt, um die moderne Zivilisation zu kritisieren. Auch der Mangel einer geschichtsbewussten ideologiekritischen zu Veränderungen drängenden Wahrnehmung der Welt kann man konstatieren. Alles richtig. Trotzdem kann eine Flucht in die Wälder, von der Kästner spricht, heilsam sein. Und in ihnen findet man vielleicht dann auch die Kraft, die andere Welt zu verändern.